Fotomonitoring -
Das visualisierte Gedächtnis
Altbundesrat Arnold Koller besuchte im Herbst 1997 Nepal. Dabei reiste er auch nach Jiri, wo die Schweiz seit 35 Jahren Entwicklungshilfe betreibt. Wie wird es möglich, überlegt K. Schuler, dem hohen Gast schnell und überzeugend die Entwicklung von Jiri zu zeigen?
Da erinnert er sich ans Fotomonitoring (Aufnahmen mit Zeitunterbruch von demselben Standort), welche das Projekt von diesem Gebiet machte. Ein Telegramm nach Bern genügt, und die gewünschten Bilder sind rechtzeitig in Jiri. Sie werden an den Orten, wo sie fotografiert wurden, aufgestellt. Ohne lange Erklärungen kann Koller mit eigenen Augen vergleichen und feststellen, was sich in den letzten Jahren in der Region verändert hatte. Unter den Anwesenden entstand eine rege Diskussion. Es ging um die Fragen: Was hat sich seit der ersten Foto verändert, und welche Entwicklungen wurden durch die Hilfe aus der Schweiz ausgelöst.
Auf der alten Foto aus den 60er Jahren sind am gegenüberliegenden Hang viele kahle Flächen sichtbar. In der Zwischenzeit wurden diese aufgeforstet; die Wälder erscheinen von weitem grün und gesund. Auf einer Aufnahme von 1975 ist im Talgrund nur Weideland zu sehen. Heute liegt dort ein grosser Marktort mit Wohnhäusern, Hotels und einer technischen Schule. Jiri wurde durch eine asphaltierte Strasse erschlossen. Der Saumpfad von früher ist auf der alten Foto kaum sichtbar.
Nicht nur in Nepal (wie auf dem Fotopaar Tutemani sichtbar), sondern auch in Pakistan sind neue Strassen ein Vehikel für technische Entwicklungen. Seit dem Ausbau der Fahrstrasse ins Hochtal steht dort, wo auf einer Foto von 1985 nur Ackerflächen sichtbar sind, heute eine Hotelstadt. Werden Fotopaare von weiter hinten im Tal verglichen, muss man feststellen, dass der Wald in Strassennähe an einigen Orten fast verschwunden ist. Auf einstigen Weiden pflanzen die Bauern heute Kartoffeln, die sie auf einer neuen Strasse gewinnbringend in die Städte transportieren. Wie das folgende Beispiel zeigt, ist Fotomonitoring aber auch in der Schweiz ein ausgezeichnetes Hilfsmittel, um Veränderungen in der Landschaft aufzuzeigen.
Geschichtsschreibung
Ökologisch wertvolle Tümpel in den Auen der Aare wurden in den letzten 3 Jahren von einer WWF-Gruppe regeneriert. Zuerst mussten alte Bäume gefällt werden, damit wieder mehr Licht auf den Boden fällt. Anschliessend wurde der aus faulenden Blättern entstandene Humus ausgehoben und abtransportiert. Seither füllen sich die Glunggen wieder jeden Frühling mit Grundwasser aus der Aare. Frösche und andere Kleinlebewesen sind zurückgekehrt, Gräser und Kräuter zieren das Gewässer. Da das Projekt «Glunggebefreiung» von der Gemeinde Muri finanziell unterstützt wurde, konnten die Eingriffe der Umweltgruppe fotografisch dokumentiert werden. Neben Aufnahmen zur Arbeitstechnik enthält der Schlussbericht ein Fotomonitoring zu jeder Glungge. Dank Fotomonitoring hat die Gruppe eine farbige Dokumentation ihrer Arbeit, weiche sie als überzeugendes Hilfsmittel zur Begründung weiterer Aktionen einsetzen kann.
Fotomonitoring ist sichtbare Geschichtsschreibung, wie ein Buch aus dem Glarnerland dokumentiert. Der Fotograf wiederholt in erstaunlicher Präzision Aufnahmen, welche sein Vater im letzten Jahrhundert machte. Beim Vergleichen der Fotopaare stellt man fest, dass der Wald sich an den einst lawinen- und rutschgefährdeten Berghängen rings um die Stadt Glarus in der Zwischenzeit stark ausdehnen konnte. Die Gründe sind vielfältig: Auswanderung, ein neues Forstgesetz, die Industrialisierung, welche nach dem Bau der Eisenbahnen einsetzte, und der Antransport von Kohle als Ersatz von Brennholz. Auf weiteren Fotos ist ersichtlich, wie sich das dörfliche Glarus innerhalb eines Jahrhunderts zu einer Stadt mit ansehnlichen Häusern und breiten Strassen entwickelte.
Veränderungen im Leben von Menschen können ebenfalls mit Fotomonitoring aufgezeigt werden. Wie man dabei vorgehen will, ist der Phantasie und Absicht des Fotografen überlassen. Es können Studio-, Innen- oder Aussenaufnahmen sein oder solche, die Menschen im Sonntagsgewand oder bei der Arbeit zeigen. Das letzte wählte der Fotograf für den Fotoband «Gespiegelte Zeit». Bis zu 30 Jahren liegen zwischen den Aufnahmen von Menschen aus Griechenland, Nepal und Pakistan. Da der Fotograf die Porträtierten persönlich kennt, strahlen die Schwarzweiss-Aufnahmen Nähe aus.
Der Fotograf ging in seiner Arbeit aber noch einen Schritt weiter. Bevor er die 2. Aufnahme machte, konfrontierte er die Menschen mit den alten Fotos. Und sobald sich die Abgebildeten wiedererkannt hatten, redeten sie drauflos über ihr Leben und die Zeit, wie es damals war. Diese spontanen Aussagen wurden mit weiteren Informationen zu den Bildlegenden verflochten, was uns den Blick ins Leben der Abgebildeten um eine wertvolle Dimension erweitert.
Was in früheren Jahrhunderten den Malern vorbehalten war, können wir heute alle mit dem Fotoapparat tun: Bilder festhalten, einfrieren und wenn benötigt, wieder auftauen. Zelluloid und neuerdings auch Digitalträger ermöglichen uns, ein Motiv festzuhalten und es jederzeit abzurufen und zu betrachten. Fotos sind sozusagen mein privates oder ein öffentliches Gedächtnis.
Denn die Wahrnehmung durch unsere Augen ist erfahrungsgemäss sehr schnell und meistens recht ungenau. Wir sehen mit jedem Augenblick etwas anderes und vergessen rasch, was wir vorher betrachtet hatten. Nur etwas Auffälliges wie eine neue Haarfarbe oder etwas Bedrohendes wie ein heranrasendes Auto bleiben in uns lange als Bild haften. Dagegen sind Einzelheiten einer Landschaft, einer Grossstadt oder einer verstopften Strasse schnell verblasst. Oder wer mag sich noch an die Gesichter der Leute erinnern, die im Stadion den Fussballspielern zugejubelt haben?
Die einzigartige Fähigkeit der Fotografie, uns blitzschnell zu erinnern, nutzen wir alle im Rereich Erinnerungsbilder seit langem. Das heisst, die schönen Seiten des Lebens, wie Geburt, Taufe, Hochzeit, Ferien, Freunde, Geburtstage usw., dokumentieren wir regelmässig und zum Teil ausführlich. Warum wir jedoch unseren Arbeitsort und unsere Welt, in der wir leben, fotografisch vernachlässigen, mag verschiedene Gründe haben. Ich möchte diesen auch nicht nachgehen, sondern alle Leser ermuntern, es in Zukunft besser zu machen und unverzüglich mit Fotomonitoring zu beginnen. Unsere Kinder werden froh oder erstaunt sein, zu sehen, wie unsere Welt einmal ausgesehen hatte
Überall sinnvoll
Fotomonitoring kann in einem privaten Rahmen, am Arbeitsplatz oder innerhalb einer Umweltgruppe begonnen werden. Vor allem im Umweltbereich gibt es gute und viele Gründe für Fotomonitoring: Ausräumen einer Landschaft, wie das Bild aus Maikirch zeigt, zunehmende Versiegelung in Stadt und Land, neue Eisenbahnlinien, Strassen und Bergbahnen. Ganz besonders ist Fotomonitoring jedoch geeignet, die Vorhaben zum Schutz oder zur Wiederherstellung unserer Umwelt darzustellen. Denken wir nur an neue Hecken- und Hochstammpflanzungen, ans Aufwerten von Waldrändern, die Renaturierung von Seeufern und Gewässern, ans Einrichten von Biotopen, das Ausscheiden von Naturwiesen usw.
Und was bringt uns Fotomonitoring? Da ist einmal der Plausch am sinnvollen Fotografieren! Die Freude auch, Bilder über getane Arbeit zu betrachten und zu vergleichen. Und indem wir vertieft teilhaben an dem, was sich vor unseren Augen verändert, schärfen wir unser Bewusstsein. Dadurch werden auch wir uns verändern, anpassen und bewusster leben.
Neben dem privaten Nutzen hat Fotomonitoring aber auch eine öffentliche Aufgabe: Es erleidhtert in Gruppen, Gremien, Kommissionen, Behörden und Räten die Gespräche und die Argumentation zur Sensibilisierung in wichtigen Themen. Es ist notwendig für Zeitungen, Berichte, Ausstellungen, Websites, Kampagnen und Dokumentation aller Art. Und genauso, wie es mein persönliches Verhalten beeinflusst, sensibilisiert Fotomonitoring auch die Öffentlichkeit, unsere Gesellschaft als Ganzes. Fotomonitoring, das öffentliche Gedächtnis, wird zu einem öffentlichen Gewissen!
Sorgfältig planen
Damit die Aufnahmen aus dem Fotomonitoring verglichen und ausgewertet werden können, muss es sorgfältig vorbereitet werden, wie das folgende Beispiel zeigt. Im Rasen vor dem Haus pflanzen Sie zur Geburt ihres ersten Kindes eine Linde. Den Baum möchten Sie längerfristig mit Fotomonitoring begleiten. Was müssen Sie vorgehend und dabei besonders beachten: Zuerst ist zu überlegen, was wirklich dokumentiert werden soll. Nur das allgemeine Wachstum der Linde, der Baum zusammen mit dem Haus, oder wie die Linde langsam die hässliche Sicht auf die Tankanlage verdeckt? Dann müssen Sie abschätzen, wie gross der Baum später in ausgewachsenem Zustand sein wird, damit er Ihnen mit den Jahren nicht aus der Foto herauswächst. Sie wählen einen grösseren Abstand oder ein weitwinkleriges Objektiv.
In einem weiteren, sehr wichtigen.Schritt legen Sie den Fotopunkt fest. Folgende Überlegungen sind dabei miteinzubeziehen: Wollen Sie mit der Brennweite in der vorhandenen Kamera fotografieren oder können Sie sich ein besser geeignetes Objektiv anschaffen? Wann sind die besten Lichtverhältnisse (wenn möglich vor 10 oder nach 16 Uhr) für die Aufnahme gegeben? Das Wichtigste: Wird in den nächsten Jahrzehnten garantiert kein Haus oder sonst etwas zwischen dem Fotopunkt und dem Baum gebaut! Um gegen alles gewappnet zu sein, fotografieren Sie den Baum am besten von 2 Standpunkten aus.
Möchten Sie auch dokumentieren, wie sich im Schatten des wachsenden Baumes die Vegetation verändert, oder sich die Äste in der Baumkrone entwickeln, müssen Sie das bereits bei der Planung berücksichtigen, d.h. 2 neue spezielle Fotopunkte bestimmen. Damit die relevanten Angaben zum Fotopunkt usw. über die Jahre nicht vergessen werden und die Aufnahmen auch von einer Drittperson gemacht werden können, zeichnen Sie einen einfachen Situationsplan mit Aufnahmepunkt und Bildrichtung. Dazu notieren Sie alle wichtigen Aufnahmedaten wie Tag und Zeit, Objektiv, Film, Filter usw.
Da Fotomonitoring zum Teil über längere Zeit im stillen geschieht - d. h. die Fotopaare können erst nach einigen Jahren verglichen werden - ist ein gewisser Durchhaltewille notwendig. Rechtzeitiges Planen und Beginnen sowie exaktes Arbeiten bringen die besten Resultate. Blende auf und viel Spass!
Die Verödung unserer Landschaft geht weiter: Bauernhof bei Meikirch BE im Jahr 1987 (oben) und 1990 (unten). Die noch jungen Kirschbäume wurden gefällt und neue Gebäude gebaut.
Fotos: Fritz Berger
Textauszug eines Artikels aus der Zeitschrift «Natürlich» Nr. 9-1999.
Autor: Fritz Berger