Reiseberichte aus Indochina 2005
In der Zeit vom Januar bis März 2005 befand ich mich auf einer Reise durch Thailand, Kambodscha, Laos und Vietnam, in deren Verlauf diese sechs Reiseberichte entstanden sind.
- Bericht 1 // Kompot, Kambodscha, 13.1.2005
- Bericht 2 // Phnom Penh, Kambodscha, 21.1.2005
- Bericht 3 // Hue, Vietnam, 4.2.2005
- Bericht 4 // Hanoi, Vietnam, 20.2.2005
- Bericht 5 // Luang Prabang, Laos, 8. März 2005
- Bericht 6 // Chiang Mai, Thailand, 22. März 2005
1 // Leichter als Seide
Kompot, Kambodscha, 13.1.2005
Neue Düfte, Stimmen, Gesichter. Tausend Farben und Formen. Bekanntes und vor allem Neues, Unbekanntes... Ein neues Dasein auch für mich in einer mir bisher unbekannten Welt, voller bisher noch nie erlebter Überraschungen.
Kompot, ein kleines Provinzstädtchen im Süden Kambodschas. Breit die Strassen. Französisch geprägt die zweistöckigen Häuser im Zentrum. Auf den Strassen fahren vor allem Motorräder und einige Velos. Autos gibt es kaum. Als Massentransportmittel dient ein 150er Motorrand mit angebautem Anhänger, auf welchem bis über 20 Personen Platz finden. Es herrscht eine angenehme Ruhe, selbst die wenigen Lastwagen fahren behaglich und ruhig über die vielfach neu geteerten Strassen.
Die kleinwüchsigen, zierlichen Menschen bewegen sich ausgesprochen ruhig, leicht wie Seide. Sichtbar ohne Hast bewegen sie sich über die Strassen und gehen ihrer Arbeit nach. Mein Hinschauen wird mit einem Lächeln erwidert. Nie spüren meine neugierigen Augen Ablehnung oder offenen Distanz. Die Menschen essen und schlafen in ihren gegen die Strasse hin offenen Laden oder in einfachen Buden am Strassenrand. Drinnen ist wenig Luxus sichtbar, jedoch gibt es stets einen kleinen Altar, einen "Pujaplatz" zu Ehren Buddhas. Und wenn möglich einen Fernseher, der auch immer läuft. Alle Menschen sind sauber und farbig gekleidet. Sie sollen sich mehrmals im Tag duschen, habe ich gelesen. Kinder - die Hälfte der Bevölkerung ist unter fünfzehn - reden mich englisch an, doch wirklich reden können nur wenige, auch von den Erwachsenen, denen ich auf der Strasse begegne und die mich ansprechen. Selbst das Englisch der "Führer", die mich mit ihrem Motorrad zu Sehenswürdigkeiten fahren wollen, ist sehr beschränkt.
Doch vor allem bei den Schülern und Studenten spüre ich einen grossen Willen zum Lernen und zum Weiterkommen. Es ist ein Land im Aufbruch, wenn auch nicht so offensichtlich. Und es gibt auch viel Aufzuholen. Zwar haben viele ein Motorrad und ein Handy, doch die Menschen müssen mit sehr wenig auskommen und auf vieles verzichten. Ein Monatslohn beträgt zwischen 20 und 50 US Dollar. Ich denke, ein minimales Auskommen für die meisten gibt es nur im Familenverband. Vorgestern traf ich einen Kellner, der seit zwei Jahre im selben Lokal am Zentrumsplatz arbeitet. Er verdiene, sagte er mir, neben Kost und Logis (auf den Boden des Restaurants) 20 Dollar im Monat. Der einzige freie Tag im Jahr sei der erste Januar, und seine Arbeitszeit betrage von morgens 6:30 bis abends 21:30 Uhr. Ähnliche Angaben hatte ich schon von anderen Männern und Frauen gehört. Als ich den 27 jährigen frage, ob er bald heiraten werde, erwidert er offensichtlich traurig, das sei für ihn vorläufig nicht möglich, denn dazu benötige er mindestens eintausend Dollar, die er für die Braut bezahlen müsse, und soviel könne er nicht abverdienen.
Doch gibt es auch hier einige Leute mit sichtbar viel Geld. Sie fahren grosse Autos und bauen sich schöne Häuser. Oder heiraten luxuriös, so wie die Gouverneurstochter. Das Hochzeitsfest unter dem Zelt auf der Strasse dauerte wenigstens zwei Tage. Vorgestern Nacht schaute ich kurz durch die offene Absperrung, angelockt von weicher rhythmischer Musik. Die Band mit Gitarre, Keyboard und drei Sängern und Sängerinnen spielte auf der Plattform eines Pick-Up. Frauen in bunten Roben mit weitem Rückenausschnitt und fein westlich angezogene Männer tanzten um eine mit blickenden Lichtern verzierte Araukarien-Tanne. Mal tanzten sie als Paare, dann wieder frei, die Hände im Takt sachte bewegend. Einige Kinder in Lumpen suchten vor dem Zaun nach leeren Dosen und Wasserflaschen. Zwei sprachen mich an und zeigten hungrig auf ihre eingefallenen Bäuche, nur wenige Meter entfernt von den Tischen voller Reste des beendeten Festessens.
* * *
Meine ersten Tage in Kambodscha verbrachte ich im Badeferienort Sihanoukville. Dort traf ich viele Touristen aus aller Herren Länder, vor allem aus Frankreich, doch niemand aus der Schweiz. Es gibt dort einige breite, sandige Strände, und das Meer ist warm, jedoch recht trübe - vielleicht eine Auswirkung der gegenwärtigen Trockenzeit. Jedenfalls ist auch das Reisanbaugebiet, welches wir auf der Fahrt hierher durchquerten, ohne Wasser. Dafür weiden Kühe in den Stoppeln des vor Wochen geernteten Reises.
Von der kriegerischen Vergangenheit des Landes sieht man - abgesehen von dem noch sehr einfachen Leben - relativ wenig. Zur Zeit lese ich ein Buch, worin Männer und Frauen von ihrer Kindheit unter dem Pol Pot Regime berichten, das Kambodscha in den Siebzigerjahren terrorisierte:
Als die Khmer Rouge nach einem mehrjährigen Machtkampf 1975 Phnom Penh eroberten, wurden alle Menschen unter dem Vorwand, die Amerikaner planten die Hauptstadt zu bombardieren, aus der Stadt vertrieben. Statt wie versprochen in ihre Häuser zurückkehren zu können, wurde die städtische Bevölkerung nach langen Märschen in Gemeinschaftsdörfern auf den Lande untergebracht. Es dauerte vier Jahre, bis die vietnamesische Armee 1979 das Regime der Khmer zerschlug. In dieser Zeit sollen bis zu 3 Millionen Menschen verhungert oder auf grausame Weise umgebracht worden sein, vor allem Gebildete und solche der Mittelkasse. Die Familien wurden gewaltsam getrennt, mit der Absicht, die Kinder in Erziehungslagern in eine neue kommunistische Gesellschaft ohne Familie und Religion umzuformen. Hier, in diesem Land, demonstrierte der Kommunismus wohl seine grausamste Form, die von Aussenstehenden kaum nachvollziehbar ist. Und dann dauerte es nochmals über zehn Jahre, bis das Land in den 90er Jahren langsam zu friedlichen Zeiten zurück fand.
Morgen reise ich nach Phnom Penh. Dort wird sich mir wohl die Vergangenheit mit ihrem wahren Gesicht zeigen. Ich beende diesen Bericht hier, denn dieser Laden, der die Benutzung von Computer fördert, wird bald schliessen.
Ich wünsche allen weiterhin einen guten Winter und grüsse euch herzlich
Fritz
2 // Buddhas, Tempel und Blumen
Phnom Penh, Kambodscha, 21.1.2005
Heisseste Mittagszeit. Nur Wenige schauen vom Quai hinunter auf den grauen Fluss, auf welchem dutzende Boote treiben. Auf den schmalen Booten hantieren Frauen und Männer. Die letzten legen noch die Netze. Viele steuern ihre Boote quer zum Fluss, langsam den Netzen folgend. Andere sind schon damit beschäftigt, sie einzuziehen. Voller Erwartung ihre Gesten. Wird es ein guter Fang? Bereits werden die ersten handlangen, zappelnden Tiere vom Netz geschüttelt. Dann endlich, nach nur wenigen Minuten, ziehen zwei Männer das Netz mit vielleicht dreissig Kilogramm Fisch ins Boot. Und während der Motor gestartet wird, wird die Beute in einen Bambuskorb umgefüllt. Der Steuermann zirkelt Fluss aufwärts zwischen den vielen andern Booten hindurch, um weiter oben erneut das Netz zu legen.
Der Fluss Tonle Sap, der ausserhalb der Hauptstadt Phnom Penh in den Mekong mündet, ist Teil eines einzigartigen Phänomens: Während der sommerlichen Regenzeit, wenn der Mekong Hochwasser führt, wird der Tonle Sap durch dieses Hochwasser zurück gestaut und ändert seinen Lauf in die entgegen gesetzte Richtung. Dadurch wächst der gleichnamige See knapp 100 Kilometer weiter den Tonle Sap hinauf auf die doppelte Grösse an. Der Wasserspiegel steigt um über sechs Meter. Ein riesiges Wasserbecken inmitten Kambodschas entsteht. Im Gebiet des Tonle Sap leben einige seltene Vogelarten. Angepasste Bäume und Sträucher gedeihen in den unterschiedlichen Wasserständen. Hier soll auch eine besondere Reissorte wachsen. Sie keimt bei tiefem Wasser und wird je nach Wasserstand sechs Meter hoch, mit einem täglichen Zuwachs von bis zu zehn cm. Die Menschen, die hier auf Booten oder in hochbeinigen Stelzenhäusern wohnen, leben vor allem vom Fischfang. Ich habe ihre Dörfer gesehen, als ich vor einer Woche mit dem Schiff in fünf Stunden von Phnom Penh nach Siem Reap gefahren bin.
Siem Reap, vor ein paar Jahren noch ein kleiner, unbedeutender Distrikthauptort, ist heute der Ausgangspunkt der wichtigsten Touristendestination von Kambodscha. Über eine Million Besucher sollen letztes Jahr hier gewesen sein. Die meisten steigen für ein, zwei Nächte in den inzwischen hunderten durchaus schmucken Gasthäusern und den wenigen teuren Hotels von Siem Reap ab, um tagsüber die Tempelruinen von Angkor zu besuchen. Ich verbrachte zwei Tage in diesen Ruinen aus dem 9. bis 13. Jahrhundert. Die Anlagen liegen verstreut auf einem viele Quadratkilometer grossen Gebiet, zum Teil im Wald, oder auch auf landwirtschaftlich genutzter Fläche. Das seit einigen Jahren als UNESCO Kulturerbe registriert Angkor wird touristisch - im Auftrag des Staates - von einer Erdölgesellschaft betrieben. Und sie macht das für den saftigen Tageseintritt von zwanzig US-Dollar pro Person vorbildlich (Einheimische bezahlen nichts). Überall wird gewischt, beaufsichtigt und dafür gesorgt, dass die Anbieter von Essen, Trinken und vielem mehr aus den eigentlichen Tempelbezirken ferngehalten werden.
Der als Wahrzeichen geltende Tempel Angkor Wat konnte mich nicht recht begeistern. Zugegeben: Von weitem erschien er mir als prächtiger, harmonischer Bau. Doch in seinem Innern bedrückten mich seine Strenge, seine Schwere und Unnahbarkeit! Ganz anders der zweitberühmteste Tempel Bayon mit seinen Türmen, Buddha-Gesichtern, dunklen Gängen und vor allem der Galerie mit den wunderbaren Reliefs über das Leben von damals. Hier fühlte ich mich beflügelt und inspiriert - der Mittagshitze zum Trotz. Ein weiterer Höhepunkt war der Besuch von Ta Prohm am frühen Vormittag, als noch nicht viele Touristen da waren. In Ta Prohm wird kaum etwas gepflegt. Neben noch intakten Bauten liegen Berge von eingefallen Steinblöcken. Auf Dächern und Mauern wachsen hohe weissstämmige Bäume, die mit ihren Wurzel das Gemäuer zusammenhalten. Ein Hauch aus einer anderen Zeit wurde spürbar. So müssen die ersten westlichen Reisenden damals vor etwa 150 Jahren Angkor mitten im Urwald vorgefunden haben...
Für die Rückreise in die Hauptstadt benutzte ich den öffentlichen Bus. Das Land im Einzugsgebiet des Tonle Sap ist tafeleben. Zwischen trockenen Reisfeldern wachsen Palmen und anderen Bäume. Als der Bus nach drei Stunden für eine Erfrischung anhält, hilft Burda (27) ihrer Grossmutter (80) sorgfältig aus dem Bus. Die Grossmutter kehrt nach einem Besuch in der Hauptstadt in ihren Wohnort zurück. Sie ist Wittfrau, seit die Khmer Rouge in den siebziger Jahren ihren Mann umgebracht haben. Burda lernt englisch und fährt wegen einer Impfung nach Phnom Penh, denn sie möchte bald zu ihrem Mann, der bereits in den USA arbeitet. Sie bliebe zwar lieber hier, sagt Burda zu mir, doch das sei halt nun mal nicht möglich. Burda arbeitet einstweilen als Verkäuferin im Baumaterialiengeschäft ihrer Eltern. Vorhin im Bus war sie wiederholt von ihre Mutter per Handy kontaktiert worden, weil sich Burda mit den Verkaufspreisen besser auskennt. Wie ich mich unschlüssig im offenen Restaurant hin und her bewege, werde ich von Burda eingeladen, mich an ihren Tisch zu setzen. Aufgetragen sind gebratenes Huhn, eine klare Gemüsesuppe und Reis. Bevor ich zu essen beginne, stellt mich Burda ihrer ganzen Reisegesellschaft vor: zwei jüngere Schwestern, sowie ein Onkel mit Frau und zwei Kindern.
* * *
Zurück in Phnom Penh besuchte ich gestern die wichtigsten Sehenswürdigkeiten. Oder genauer gesagt: Drei Museen sehr unterschiedlicher Art. Das National Museum beherbergt die in Angkor gefundenen, wunderbaren Buddhastatuen und andere aus Stein gehauene Figuren. Alle Exponate sind in einem offenen, hier üblichen hohen Holzbau mit einem gut gepflegten Mittelgarten untergebracht.
Ebenfalls wie eine stille Oase wirkte auf mich der zugängliche Teil des Königspalastes, geziert mit hunderten von Kübelpflanzen aller Art (erwähnen möchte ich: blühende Kalanchoe, Hibiskus, Oleander, diverse Orchideen und vierfarbig veredelte Bougainvillea). Ich mag die luftigen, meist gelb gefärbten Sakralbauten mit ihren spitz ausstrahlenden Dachfiguren die hier in verschiedenen Grössen bewundert werden können. Zu sehen gibt's auch viele, viele unterschiedliche Buddhafiguren, die all den Königen als Geschenke überbracht worden sind. Eine vergoldete Buddhafigur mit einem 25-karätigen Diamanten auf der Stirn steht auf einem Boden mit Platten aus reinem Silber.
Am Nachmittag dann der Schreckensort Tuol Sleng, gelegen in einer rohen Nebengasse mitten in der Stadt. Das Museum Tuol Sleng ist eine ehemalige Schule, bestehend aus drei 3-stöckigen Bauten. Dort betrieben die Khmer Rouge zwischen 1975 und 1979 ein Gefängnis. Während dieser Zeit wurden hier einige zehntausend Menschen (Männer, Frauen, Kinder und Greise) auf grausamste Weise gefoltert, bevor sie ins 14 km entfernte Choeng Ek gebracht wurden, um auf den Killing Fields getötet zu werden. In mehreren Räumen sind Eisenbetten und Folterwerkzeuge zu sehen. Anderswo auf Tafeln aufgezogene Fotografien von Getöteten. (Alle Gefangenen wurden nach der Einlieferungsbefragung von den Khmer Rouge fotografiert.) Gezeigt wird auch ein Film, in welchem ehemalige Gefängnis-Wärter detailliert über ihre Folter- und Hinrichtungsmethoden berichten. Nur einige wenige Insassen haben Tuol Sleng überlebt. Festgebunden auf den Folterstühlen wurden sie von den vietnamesischen Truppen gefunden, als diese 1975 die Khmer Rouge in den Dschungel vertrieben.
Als Stadt mag ich Phnom Penh. Kaum zu glauben, dass hier Ende der 70er Jahre - fünf Jahre nach der Rückkehr der Vertriebenen - nur gerade 45'000 Menschen gelebt haben... Von den reissbrettartig angelegten Strassen sind die wichtigsten breit und geteert. Die meisten Bauten haben einen eigenen Charakter mit viel Verzierung und Farbe. Es finden sich noch keine Hochhäuser. Immer wieder breiten sich grosse Grünflächen zwischen den Häuserreihen aus, die recht gut gepflegt werden. Stinkig und mit Abfall übersäht sind jedoch die meisten Nebengassen und die vielen, bunten, reich ausgestatten Fisch-, Gemüse-, Frucht- und Kleidermärkte. Eigenartig auch Nachts: eine Grossstadt ohne Strassenbeleuchtung...
Diesen Brief wollte ich euch schreiben, bevor ich morgen Kambodscha in Richtung Vietnam verlasse. Ich habe eine viertägige Bus- und Schiffsreise gebucht, welche mich durch das weite Mekong-Delta nach Saigon bringen wird.
Natürlich freut es mich, wenn ich per fritz.berger@transhumana.ch von euch höre. Ich sende allen herzliche Grüsse
Euer Fritz
3 // Im Land der Farben
Hue, Vietnam, 4.2.2005
Auf meiner Reise durch Vietnam bin ich im Gebiet angelangt, wo während 30 Jahren die Grenze zwischen Süd- und Nordvietnam verlief. Die Region bildet auch eine Wetterscheide, es ist vielfach neblig und bereits bedeutend kühler. Heute Abend reise ich per Bus weiter nach Hanoi, wo es nachts recht kalt sei, wie mir soeben ein Schwede berichtete, der mit dem Nachtzug angereist kam. Doch was habe ich von diesem Land, das doch ein Hauptziel meiner Reise ist, bisher gesehen?
Von Phnom Penh kommend reiste ich in drei Tagen mit Schiff und Bus durchs vietnamesische Mekong Delta. Das Delta ist - als Kornkammer Vietnams - sehr dicht bevölkert. In den Feldern zwischen den vielen Kanälen und Mekong-Armen wächst Reis, Reis und nochmals Reis: Ein grüner Teppich, vielleicht zwei Monate alt. Entlang der Kanäle reihen sich Palmen und Laubbäume, seltener grössere Anlagen, in welchen Bananen oder Mango wachsen. Die vielen Städte bieten schmucke Häuser, breite Hauptstrassen und gut gepflegte, blumenreiche Grünanlagen.
In Saigon, der Metropole des Südens, sind die Strassen stets gefüllt mit Mopeds. Die Gehsteige sind hier nicht zum Gehen bestimmt, sondern zum Parkieren eben dieser Zweiräder. Eher eine Seltenheit sind Lastwagen, Privatautos oder Busse. Inmitten von älteren oder neu im Bau stehenden Hochhäusern für Büros oder Hotels stehen viele schmucke Gebäude aus der Zeit, als die Franzosen hier das Sagen hatten. Doch französisch sprechenden Menschen begegnete ich leider nur noch wenigen. Obschon viele Vietnamesen englisch lernen, ist ein wirkliches Gespräch recht schwierig, nicht zuletzt wegen der sehr gewöhnungsbedürftigen Aussprache. An meinem dritten und letzten Tag in Saigon besuchte ich das Kriegsmuseum mit Tanks, Geschützen, Panzern und Dokumenten vor allem aus der Zeit von 1965 bis 1975. Schrecklich der Videofilm über die bis heute andauernden Leiden von Menschen infolge der flächendeckenden Einsätze von chemischen Entlaubungsmitteln durch die US Armee! Und für mich nicht weniger unter die Haut gehend: ein Saal mit Aufnahmen und Porträts der vierundsechzig(!) Fotografen - vietnamesische und ausländische - , die im Krieg umkamen.
Die Geschichte des dreissig Jahre dauernden Unabhängigkeitskrieges (1945 bis 1975) las ich unterwegs im Zug in Richtung Da Nang. Etwas südlich von Da Nang liegt Hoi An, dort konnte ich mich mit der älteren Geschichte Vietnams vertraut machen. Die Altstadt - ein UNESCO-Kulturerbe - besteht heute fast nur noch aus vielen kleinen Souvenirshops, Ess- und Trinklokalen, sowie Schneidereien, wo man sich über Nacht für wenig Geld alle erdenklichen Kleider anfertigen lassen kann. In Hoi An wohnten seit Jahrhunderten chinesische Handelsfamilien. Aber nach 1975 verliessen die meisten aus Angst vor den Kommunisten den Ort. Einigen gelang es, sich ins Ausland abzusetzen, andere flohen mit Schiffen als "Boatpeople" übers Meer. Vom Reichtum der einstigen Bewohner zeugen die Tempel, Gemeinschafts- und Wohnhäuser, die besichtigt werden können. In einem solchen aus Holz gebauten Haus wohnte ich für vier Nächte.
Auf einem Tagesausflug besuchte ich die Kultstätte der Cham in My Son. Die Cham-Kaiser regierten das Land während 1400 Jahren, bis sie im Mittelalter von den Vietnamesen abgelöst wurden. Trotz grossen Bombenschäden geben die noch erhaltenen Tempel einen gewissen Eindruck, wie es einmal in diesem heute mit Wald umgebenen Tal ausgesehen haben mag. Überhaupt berührt mich die Cham-Kultur, oder -Kunst, sehr stark. Noch nie habe ich ein Museum so befriedigt verlassen, wie dasjenige über die Cham-Kultur in Da Nang. Froh, humorvoll, und graziös wirkten auf mich die Tier- und Menschenfiguren aus Sandstein, die dort ausgestellt sind. Auch gestern, als ich eher zufällig einen kleinen Tempel aus der Cham-Zeit besuchte, war ich erneut tief bewegt von der "erleuchteten Schlichtheit" der Bilder, der Statuen und des Gebäudes.
Die Anlagen der letzten Vietnamesischen Kaiser (1800 bis 1945) von Hue, auch sie ein UNESCO-Kulturerbe, habe ich in den vergangenen zwei Tagen erkundet. Die einstöckigen, offenen, aus Holz und später bereits aus Beton errichteten Hallen beeindrucken mit ihrer intensiven roten Grundfarbe und den aufgemalten orange-gelben Ornamenten. Zwischen den Gebäuden liegen Plätze aus Ziegelsteinplatten, verziert mit einer grossen Variation an blühenden Kübelpflanzen und Bonsai. Und immer wieder grüne Flächen und Teiche, in welchen rosa Seerosen blühen. Vor allem in den Anlagen der berühmten Königsgräber ausserhalb der Stadt ist der französische Einfluss gut sichtbar.
* * *
Zwei Begegnungen:
Zwecks Planung meiner Weitereise betrete ich in Hoi An eines der vielen Reisebüros. Mit dem Besitzer, einem hageren Mann in den späten Fünfzigern, spreche ich französisch oder englisch. Seine Geschichte: Geboren bei Hoi An, konnte er 1975 18-jährig nach Da Nang gehen und studieren. Später arbeitet er als Maschinenbautechniker in verschiedenen staatlichen Betrieben, zuletzt in einer Weberei. Vor acht Jahren kamen mit der Öffnung Vietnams immer mehr Touristen ins Land, da wurde er selbständig und öffnete dieses Reisebüro. Da alle Gebäude dem Staat gehören ist die Miete gering. Die Wände seines Büros sind voll beschriftet mit Angaben zu Ausflügen oder zu Bahn-, Bus- und Flugbilletts, die er vermittelt. Auf dem Arbeitstisch liegen einige fotokopierte Prospekte, ein Quittungsblock und ein Telefon. Mehr braucht er nicht.
Gestern, bei der Besichtigung eines Königsgrabes, spricht mich ein junger Mann auf englisch an. Er spaziert gerade Hand in Hand mit einer Frau um einen Teich. "Immer dasselbe, nur Tempel und Gärten", sagt er offenbar enttäuscht und klagt: "Immer muss man zu Fuss gehen". Das Paar heiratete vor zwei Wochen in Saigon und ist für einige Tage hier in Hue, wo sie auch eine Grossmutter besuchen wollen. In zehn Tagen, also nach dem Neujahrsfest, wird er zurück in die USA fliegen, wo er als Chemiker arbeitet. Er ist 32 Jahre alt. Seine Braut, die er vor zwei Jahren durch Vermittlung kennen gelernt hat, ist 27 und in einem 5-Sterne Hotel als Kassiererin tätig. Sie wird ihm im Sommer nachreisen. Nein, eine Amerikanerin könnte er niemals heiraten, er liebe die vietnamesische Kultur und die Bindung an die Familie, meint er in überzeugendem Ton, auch wenn dies mit der Enthaltsamkeit vor der Ehe verbunden sei. Er floh 1988 als Fünfzehnjähriger zusammen mit seinen Vater und weiteren 900 Boatpeople nach Malesien. Nach zwei Jahren Lager fanden sie Aufnahme in den USA. Später reisten seine Mutter und eine Schwester nach. Heute sind sie USA Bürger. Warum er nicht nach Vietnam zurück kehre, wenn er dieses Land doch so sehr liebe, frage ich ihn. Es gebe hier zu viel Armut und Korruption, sind seine Gründe, aber diesmal klingt es weniger überzeugend.
* * *
Die China Town in Saigon erreiche ich auf dem Rücksitz eines ortsunkundigen Mopedfahrers. Nun suche ich mich anhand meines Stadtplanes zu orientieren. Doch ohne Erfolg. Ich falte den Plan zusammen, um zu Fuss zu erkunden. Da schubst mich eine Strassenwischerin am Arm und zeigt auf den Boden. Wirklich, da liegt mein heraus gefallenes Brillenglas auf dem Beton! Was tun? Ich bin verloren, allein ohne Brille... Beruhige dich Fritz, sage ich mir. Sicher gibt es irgendwo einen Optiker, der das Glas wieder einsetzen kann. Ich drehe mich um, und.... nicht zu glauben, ich stehe vor einem Brillenladen! Ich zeige das Glas einem Verkäufer und werde nach hinten in einen Zwischenraum geführt, wo ein Uhrenmacher arbeitet. In zwei Minuten ist der Schaden behoben. Gratis.
Auf meine letzten Brief habe ich verschiedene Rückmeldungen erhalten, die mich sehr freuten und mir wohl taten. Ganz, ganz herzlichen Dank! Euch wünsche ich weiterhin einen schönen, weissen Winter, und vor allem keine Grippe! Hier ist Festzeit angesagt, das vietnamesische Neujahr dauert vom 9. bis zum 13. Februar. Es sei wie eine bunte Mischung aus Weihnachten, Ostern und Neujahr in Europa, habe ich in einer Broschüre gelesen. Doch darüber schreibe ich im nächsten Brief.
Herzlich grüsst euch euer Fritz
4 // Drei Berichte
Hanoi, Vietnam, 20.2.2005
Bereits ist die Halbzeit meiner Reise vorbei. Vor mir stehen die letzten Tage Vietnam, bevor ich am 26. Februar nach Vientiane, der Hauptstadt von Laos, fliegen werde. In diesem Reisebrief berichte ich euch von drei Erlebnissen: Vom Fest zum vietnamesischen Neujahr, das ich in Hanoi miterlebt habe, von meinen Besuch in einem Höhenkurort nahe der chinesischen Grenze, und von der Zugreise zurück in die Hauptstadt. Wie erwartet ist es hier in Norden recht kühl, so dass ich oft all meine warmen Kleider trage. Es ist Regenzeit, die Tage vielfach trüb und windig, und wenn es regnet, wird die Luft nass und kalt. Die Menschen - meistens unterwegs auf Mopeds - tragen dicke Pullover, Jacken, Handschuhe und Kopfbedeckungen. Auf dem Lande ist der Regen willkommen. Bereits haben die Bauern die erste der drei jährlichen Reiskulturen gepflanzt.
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Ein glücklicher Mensch
Im Literaturtempel mitten in Hanoi. Hier wurde vor tausendfünfhundert Jahren die erste vietnamesische Universität gegründet. Gemeinsam mit hunderten von feierlich gekleideten Menschen bewege ich mich von Raum zu Raum dem heiligsten Ort zu, wo die Gründer aber auch Konfuzius und Laotse verehrt werden. Von den Vietnamesen in diesen Tagen besonders beliebt ist ein Hof mit auf Schildkröten aufgestellten Steintafeln. Darauf eingraviert sind die viele tausend Namen der Universitätsabsolventen bis ins späte Mittelalter zurück. Den Kopf der steinernen Schildkröte zu berühren, sagt mir eine junge Frau, soll Glück und ein erfolgreiches Jahr bringen. Nhung, die in einer Frauenorganisation arbeitet, spricht gut englisch und will mir ihre Emailadresse aufschreiben. Ich staune nicht wenig als ich lese: "Nhang, a beautiful girl". Wer ist diese junge Frau? Mein Interesse ist geweckt, doch ich muss warten, denn unterdessen spricht sie wieder mit ihren Begleitern. Und meine Gedanken schweifen zurück in die letzten Tage von Tet.
Tet, das vietnamesische Neujahrsfest, dauert eine Woche. Und gäbe es nicht die Geldautomaten, man wäre wirklich aufgeschmissen, denn alles ist zu. Sogar die Läden und der Markt schliessen für zwei Tage. Die Arbeiter und Angestellte kommen in den Genuss einiger freier Tage um ihre Familien zu besuchen - die einzigen Ferien des Jahres, wie mir bestätigt wurde. Ein amerikanischer Freiwilliger, so lese ich in einer Broschüre, hat einmal gesagt, Tet bedeute für die Vietnamesen so viel, wie für uns im Westen Weihnachten, Neujahr und Ostern zusammen gerechnet. Tet, ein Familienfest! Und ein Feste der Blumen. Die umsatzstarke Zeit für Blumenzüchter, Händler und Marktfahrer. In der Zeitung lese ich seitenlange Berichte über Bedeutung, Zucht und Marktwert der vor Tet gehandelten Blumen. In Hanoi besuche ich einen Blumengrossmarkt. Heuer beliebt sind besonders Gladiolen in diversen Farben, auch Narzissen und Tulpen in Schnitt und Topf, dann Rosen, Chrysanthemen in Schnitt und Topfware, einjähriger Rittersporn, Dahlien, Nelken und vieles mehr. Am Wichtigsten jedoch sind die Tet-Bäumchen, die es in drei Sorten gibt: Bäumchen voller Miniorangen, rosa blühende Pfirsichbäumchen (davon vielfach nur Zweige), oder gelb blühende Bäumchen (deren Namen mir in Moment nicht zugänglich ist). Eines davon, oder alle drei, stehen über Tet in weissblauen Töpfen in jedem Haus, in jedem Geschäft, in jedem Büro, in jedem Tempel. Reiche geben für bis zu zwei Meter hohe Bäumchen einige hundert Dollar aus. Viele Bäumchen ziehen mit farbigen Blinklichtern zusätzliche Aufmerksamkeit auf sich.
Häuser, Strassen und Plätze stehen im Fahnenschmuck. Auf Bühnen gibt es Livemusik, Theater usw. Und hier am See in Hanoi wird zu Beginn des neuen Jahres ein 20 Minuten dauerndes Feuerwerk abgebrannt. Alles ist auf der Strasse. Dann folgen zwei Tage für Familienbesuche. Auch ich war eingeladen, denn der erste Besucher gilt als besonderer Glücksbringer (und da wird ab und zu nachgeholfen). Zuerst besuchen die Jüngeren ihre Eltern und die älteren Geschwister, und dann umgekehrt die Ältern die Jüngeren. Die Frauen trinken Grüntee, die Männer (nur sie!) Schnäpse. Es werden Snacks gereicht, manchmal auch Reis. Glücksbringende Münzen in roten Tüten werden ausgetauscht, und neue 500 Dung Noten in die Tet-Bäumchen gesteckt oder auf den Hausalter gelegt. Die Besucher reichen sich sozusagen die Türklinke, und falls für längere Zeit niemand anderes kommt, wird Karten gespielt - über Tet auch in Kaffees, und immer um Geld.
"Ich muss gehen", reisst mich die Stimme von Nhang in den Literaturtempel zurück. "Aber ich möchte mich noch gerne mit dir unterhalten", sage ich zur Frau mit dem strahlenden Gesicht. Als ich frage, was ihr das Wichtigste sei in ihrem Leben, antwortet sie lachend: "Weiterhin glücklich bleiben, und dieses Glück an andere Menschen weiter geben!" Und auf die Frage, wie sie dazu gekommen ist: "Einfach, von innen heraus! Jetzt muss ich aber gehen, wir schreiben uns per Email." Wieder allein scheint mir, als sei ein Hauch ihres Glücks auf mich über gesprungen...
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Bei den Bergvölkern
Sa Pa - von diesem magischen Ort las und hörte ich, sobald ich vietnamesischen Boden betrat. Und als ich vor genau einer Woche dort auf 1500 Meter über Meer ankam, begegnete mir Sa Pa in Nebel und Regen. Obwohl von den Franzosen bereits zur Jahrhundertwende als Sommerfrische entdeckt, erlebte Sa Pa seinen ersten Höhepunkt zwischen den Weltkriegen, als sogar Gäste aus Europa anreisten. Im über dreissig Jahre dauernden Krieg wurde es ziemlich zerstört, dann seit den frühen Neunzigerjahren wieder aufgebaut. Mit den Franzosen kamen damals auch die Vietnamesen nach Sa Pa, einem Gebiet, das davor nur von verschiedenen Bergstämmen bewohnt war. Zwar sind die Vietnamesen heute noch in der Minderheit, doch ist der Tourismus mit den Hotels, Geschäften und Restaurants weit gehend in ihren Händen. Sie bewirtschaften auch die vielen Frucht-, Blumen- und Gemüsegärten, die sich rings um den Ort ausgebreitet haben. Die Dörfer der Bergvölker wurden erst in jüngster Zeit mit Strassen erschlossen, Schulen wurden gebaut und es wurde versucht, sie an der landwirtschaftlichen Entwicklung teilhaben zu lassen. Reiseleiter wurden ausgebildet, und in zwei Dörfern können Fremde auf gebuchten Touren in Häusern von Bergstämmen übernachten. Dabei sind es gerade sie, die Bergvölker, die mit ihrem offenen Wesen und den bunten Kleidern Touristen aus dem In- und Ausland anlocken. Dieses Jahr wird vermutlich die 100'000er Grenze überschritten werden.
Ich benutzte die fünf Tage in Sa Pa vor allem zum Wandern. Dörfer, Hügel, die Reisterassen und vor allem die Vegetation erinnerten mich an Nepal. Blühende rosa Pfirsich- und weisse Birnbäume liessen in mir Frühlingsstimmung aufkommen, um so mehr als es tagsüber angenehm warm und sonnig war. Allein und einmal in einer geführten Gruppe durchwanderte ich die Hügel, Täler und Dörfer, in denen Hmong, Dao, Day oder Tay wohnen. Am zahlreichsten und somit auffälligsten sind die schwarzen Hmong. Die klein gewachsenen Männer und die Frauen in ihren traditionellen blauschwarzen Kleidern prägen das Bild in den Gassen von Sa Pa. Sie, und Frauen der anderen Gruppen, verkaufen hier für die Fremden hergestellte Textilien und Silberschmuck. Aber auch in ihren Dörfern versuchen sie mit grosser Ausdauer und lachenden Gesichtern den Treckern Souvenirs, wie sie es nennen, zu verkaufen. Immer wieder habe ich versucht, durch lesen und fragen mehr über das Verhältnis der Bergvölker zum heutigen Vietnam herauszufinden. Doch dazu bekam ich keine Antworten, auch nicht im Ethnologischen Museum in Hanoi, wo alle 54 Volksgruppen mit Objekten, Texten und Bildern vorgestellt werden, und das ich eine Woche zuvor besucht hatte.
Am letzten Tag fuhr ich in einem Mopedtaxi zum 15 Kilometer entfernten Phong To Pass. In einer stündigen Wanderung am Fuss des 3143 hohen Fan Si Pan (dem höchsten Berg von ganz Südostasien) freute ich mich am Urwald mit all seinen unterschiedlichen Laubbäumen. Vogelstimmen und Windgesäusel erfüllten die angenehm warme Luft. Aber auch der süsse Duft eines gelben Rhododendron, der hier im hohen Geäst alter Bäume blühte, erreichte meine Nase. Sobald sich der Wald auflichtete, säumte ein Gewächs mit blaurosa Glöckchen den Weg. Etwas wehmütig, dass ich es versäumt hatte, den Fan Si Pan ganz zu besteigen, liess ich mich wieder hinab fahren nach Sa Pa, das inzwischen wieder in kaltnassen Nebel gehüllt war.
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Reisen wie Vietnamesen
Kurz nach zehn Uhr vormittags. Bei grauem, windigem Wetter besteige ich in Lao Cai, einer Grenzstadt zu China, den Zug in Richtung Hanoi. Mein vor zwei Tagen gekaufter "harter" Sitz ist die Nr. 1 im Wagen 8. Alle Sitze sind besetzt, als der Zug sich wenig später zu bewegen beginnt. Für die vor uns liegenden ca. 350 km wird der lange, von einer Diesellok gezogene Zug knapp elf Stunden benötigen. Kurvenreich geht es durch niedriges Hügelland immer dem Roten Fluss entlang. Erst spät am Nachmittag erreichen wir die Ebene und die neu bepflanzten Reisfelder. Die Sicht durch die verschmutzten und verkratzten Plexiglasscheiben, die der niedrigen Temperatur wegen geschlossen bleiben müssen, ist sehr beschränkt. Dazu kommt in der unteren Fensterhälfte noch ein Drahtgitter, und die vorhandenen Metallstoren hängen zum Teil schräg in den Öffnungen.
Unter den meist jungen Reisenden (Studierende, die aus ihren Ferien zurückkehren) wird ergiebig geschwatzt. Jungs und Mädchen scherzen zusammen, berühren und schupsen sich. Es ist offensichtlich, dass die neuen Bekanntschaften schnell zu kürzeren oder längeren Flirts führen. Es gibt Päärchen, die sie während der stundenlangen Fahrt fest umschlungen halten, mal redend, lachend, mal essend oder schlafend. Mir gegenüber sitzt ein Reisebegleiter, der mir übersetzen kann. Seine Reisegruppe fährt in einem besseren Wagen. Er klagt mir, dass er fast immer unterwegs sei und deswegen keine Frau finde. Wenn bei einer Station neue Reisende zusteigen, setzen sie sich ganz selbstverständlich zu den Leuten, die schon da sind. Sofort wird geredet und bald gelacht. Niemand muss im Korridor stehen. Körperliche Nähe gibt auch Wärme, denn es ist sehr zügig im Wagen, trotz der geschlossenen Fenster und Türen. Auch wenn die Gespräche abklingen ist es nie ruhig, stets bewegen sich Fahrgäste im Durchgang. Aber auch Verkäuferinnen mit Getränken, Reis, Früchten, Snacks und Kleinkram kreuzen immer wieder auf. Auch der junge Schuhputzer und der Mann mit der Teekanne und der Wasserpfeife suchen immer wieder Kunden. Pro Wagen gibt es einen Aufseher, der an den Stationen die Türen bedient. Einmal bittet er eine Verkäuferin, den inzwischen mit allerhand Abfall bedeckten Wagenboden aus zu fegen. Sogar ein Polizist durchschreitet den Zug und vertreibt mit bösem Blick und einer symbolischen Rute eine fliegende Händlerin, die sich auf einem Sitzplatz ausruht. Ab und an beginne ich zu lesen, doch bald muss ich wieder aufgeben: Meine Reisefreunde bieten mir Sonnenblumenkerne an und später kleine, lokale Äpfel, die mit Salz und Pfeffer gegessen werden. Oder sie wollen immer wieder mit mir scherzen und lachen. Und das nicht etwa, weil ich ein Fremder bin, sie tun das auch mit zwei alten Frauen (die eine ist 87), die auf der Bank kauern, Betelnüsse kauen und alle Mitreisenden mit zahnlosem Lächeln anstrahlen. Erst nachdem die Studierenden eine Stunde vor Hanoi aussteigen, wird es etwas ruhiger im Wagen. Durch dunkle Ritzen bläst weiterhin ein kalter Wind...
5 // Ruhe und Gemütlichkeit
Luang Prabang, Laos, 8. März 2005
Wie ich von einigen von Euch vernommen habe, hält der kalte Winter in Europa weiterhin an. Auch hier hält das Wetter gelegentlich Überraschungen bereit. Des kühl-feuchten Wetters in Nordvietnam (dort in dieser Jahreszeit üblich) überdrüssig, flog ich zwei Tage früher als geplant nach Vientiane, der Hauptstadt von Laos. Wie erwartet fand ich dort ein angenehmes Klima vor, mit warmen Tagen und frischen Nächten. Dann, eine Woche später, ich war schon unterwegs in den Norden von Laos, gab es für vier Tage einen überraschenden Kältesturz von über zehn Grad, begleitet von Wolken und kalten Winden.
In Laos traf ich auf eine ganz neue Welt! Die betriebsamen Städte Vietnams - voll von Menschen, Verkehr und sichtbarem Streben nach Verdienst - wurden abgelöst durch fast menschenleere Gassen mit wenigen Velos und Mopeds. In Vientiane, und das erschreckte mich, sehe ich viele grosse und neue Allrad-Autos, was auf ausländische Hilfsorganisationen hinweist, und auf neureiche Laoten, die von der Öffnung des Landes seit den frühen neunziger Jahren profitieren konnten. Trotz Internet, Fernsehen und Touristen lassen sich die Laoten bisher nicht aus der Ruhe bringen. Sie haben wohl auch allen Grund dazu, leben doch in diesem grossen Paradies, wie einige Fremde das Land nennen, nur gerade fünf Millionen Menschen. Weite Teile des Landes sind noch mit Wald bedeckt. Die Dörfer im Hinterland, wo die vielen Minderheiten leben, sind nur vereinzelt mit Strassen oder Elektrizität erschlossen. Die fehlende Initiative der Laoten hat aber zur Folge, dass sich neuerdings viele Ausländer - mit lokalen Frauen verheirat - im Tourismusbereich breit machen.
Reisen als Suche
Warum reise ich eigentlich? Das frage ich mich in schwierigen Momenten, wenn ich müde bin, auf einer langen Busfahrt, auf der Suche nach einer Unterkunft oder am Abend allein beim Znacht. Dabei ist die Antwort einfach: Es ist das nie endende Interesse nach dem Neuen, nach dem Unbekannten. Und im Speziellen das "sich Entbinden vom Alltag", was zu Hause per Definition unmöglich ist. Es ist die Suche nach dem Freiwerden für Unbekanntes. Für mich steht nicht das Abenteuer im Vordergrund, sondern das Erleben . Nicht das Machen ist mein Ziel, sondern das Erspüren: Wie leben die Menschen? Wie gehen sie miteinander um? Wie mit der Natur? Was empfinden sie als Glück? Zudem versuche ich mich ganz bewusst in eine neue Landschaft, in eine neue Umgebung hineinzuspüren: Wie wirkt sie auf mich? Fühle ich mich fremd, oder wohl und zuhause?
Einer dieser wohltuenden Orte ist sicher Luang Prabang! Mein Reiseführer beschreibt die erste Hauptstadt des Landes, wohl nicht zu Unrecht, als das Herz von Laos. Die malerische Kleinstadt, bestehend aus einigen Strassenzügen auf einer Halbinsel beim Einfluss des Nam Khan in den Mekong, steht seit einigen Jahren auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes, und entsprechend werden nun die Wege, Strassen und die ein- bis zweistöckigen Häuser sorgfältig renoviert. Ich stelle mir vor, dass Bern vor einigen hundert Jahren sehr ähnlich ausgesehen haben mag, nur natürlich ohne die Annehmlichkeiten der heutigen Zeit. Viele der einfachen und nobleren Gebäude wurden in Gasthäuser, Restaurants und Läden umgebaut. Man stellt sich auf den erst anlaufenden Tourismus ein. Neben den bestehenden Märkten wurde extra ein Nachtmarkt eingerichtet, wo auf einer tagsüber befahrenen Strasse lokales Handwerk angeboten wird. Die Stadt ist wie eine einzige grosse Parkanlage, mit blumengeschmückten Häusern (keine Geranien, dafür blühende Orchideen und Christusdorn), Bäumen, und Dutzenden von Pagoden. Speziell diese Tempelanlagen mit mehreren Gebäuden, Wat genannt, verleihen dem Ort seine Berühmtheit und seine Schönheit. In den Wat, welchen vielfach bereits renoviert sind, leben, beten und arbeiten vor allem junge Mönche. Die Stadt, eingebettet zwischen den beiden Flüssen und umgeben von bewaldeten Hügeln, ist ein wirklich idealer Ort, um sich wohl zu fühlen! - wenigsten heute noch...
In der Hoffnung, ihr könnt aus meinen Worten wenigstens einen Hauch von diesem einzigartigen Ort erspüren, grüsse ich euch herzlich,
euer Fritz
6 //
Chiang Mai, Thailand, 22. März 2005
Zum Reisen als Traveler gehört, dass es manchmal anders läuft als gewünscht. So wollte es mir in Laos nicht gelingen, obschon ich darauf sehr erpicht war, einen mehrtägigen Treck durch Berge, Wälder und Dörfer zu machen. So kam es, dass ich einige Tage früher als geplant den Mekong nach Thailand überquerte. Hier werde ich nun ab morgen, immerhin für zwei Tage, einen Treck machen. Am Freitag dann geht's per Zug nach Bangkok und am Samstag zurück in die Schweiz. Das bedeutet auch, dass dies mein letzter Reisebrief ist.
"Willkommen in der Zivilisation", mit diesen Worten begrüsste mich der diensttuende Offizier, als ich vor drei Tagen gegen Mittag als einziger Tourist das thailändische Immigrationsbüro am Mekongufer betrat. Obschon der Beamte in einem kurzen Gespräch seine Bemerkung herunterspielte, widerspiegelt sie den gewissen Dünkel, welcher die Menschen hier gegenüber ihren Nachbarn und den eigenen Minderheiten hegen. Als einziges Land ohne koloniale Vergangenheit und grösseren Konflikten konnte es in der Tat seine wirtschaftliche Vormachtstellung dauernd ausbauen. Die anderen drei Länder (Kambodscha, Vietnam und Laos), welche sich in langen, schrecklichen Kriegen von den fremden Mächten Frankreich und den USA befreien mussten (wie die Urschweizer 1291 von den Habsburgern), sind hingegen erst dabei, sich gesellschaftlich zu stabilisieren und wirtschaftlich zu erholen.
Dabei hat Vietnam mit seinen flinken, arbeitsamen und geschäftstüchtigen Menschen die sichtbarsten Erfolge vorzuweisen. Und das, obschon sie nach ihrem Sieg 1975 noch für Jahre von der westlichen Hilfe ausgeschlossen wurden. Natürlich leben die Menschen bescheiden, doch Bettlern oder wirklich darbenden Menschen bin ich nicht begegnet. Ihr langer Krieg scheint für die meisten Geschichte, doch nicht für alle. So verweigern die USA bis heute eine Schuldanerkennung - geschweige denn Wiedergutmachung - der durch den Einsatz von vielen Millionen Litern Insektiziden (bekannt unter Agent Orange) entstandenen Schäden an Natur und vor allem an Menschen. So kommen heute in Vietnam noch Tausende körperlich geschädigter Kinder auf die Welt.
Laos hat im Vietnamkrieg die meisten Bombardierungen erlebt. Dadurch sollte der Ho-Chi-Minh Path, der weit gehend durch das laotisch Gebirge entlang der Grenze zum damaligen Süd-Vietnam führte, unterbrochen werden. Zudem führten die USA in Nordosten des Landes einen während Jahren geheim gehaltenen Luftkrieg gegen vordringende kommunistische Kräfte. Auch in Laos siegten die Kommunisten und regieren das Land seit 1975. Laos wird mit seinen grossen Reserven an Land und bisher untergenutzten Bodenschätzen wohl im nächsten Jahrzehnt grosse Fortschritte machen. Eine der grössten Herausforderungen wird sein, die vielen jungen Menschen zu schulen und ihnen eine Beschäftigung zukommen zu lassen, damit der Druck auf den bisher im weiten Hügelland vor allem in Brandrodung genutzten Boden eingedämmt werden kann. Ansätze dazu, den wandernden Trockenreisanbau durch Obst- und Waldkulturen zu ersetzen, habe ich immer wieder gesehen. In Laos leben die Menschen der Armut zum Trotz sichtlich geruhsam und genügsam, was das Land für uns gestresste Europäer als Reiseziel so interessant macht.
Kambodscha wird von den drei Ländern - nach meiner Einschätzung - den weitesten uns steinigsten Weg vor sich haben. Die Menschen werden noch Jahre vom Völkermord nach 1975 durch die Khmer Rouge geschwächt und dadurch politisch verunsichert bleiben. Um so mehr als die Schlächter von damals bisher ungestraft im Lande leben. Armut, Verwahrlosung und Schmutz prägen nicht nur die Hintergassen. Die Korruption ist enorm und nimmt im Rahmen der angelaufenen Hilfe aus dem Ausland immer noch zu.
Dies ist, wie mir sehr wohl bewusst ist, eine kurze, sehr oberflächliche und unvollständige Einschätzung der Lage in den vier Ländern, die ich bereist habe.
* * *
Nun will ich noch über meine Weiterreise von Luang Prabang berichten:
Auf einem einfachen Boot fuhr ich zusammen mit fünfzehn Touristen während neun Stunden auf dem Ou Fluss nordwärts nach Muang Ngoi. Die Landschaft - wie überall in Laos geprägt von Brandrodung - wurde vor allem im zweiten Teil interessanter. Je weniger Dörfern wir begegneten, umso höher und steiler wurden die Hügel. Es gab viel Wald und senkrechte Felswände, wo ich einmal sogar hängende wilde Honigwaben entdeckte. Geschickt und sicher steuerte der Fahrer das Boot durch hunderte von Stromschnellen, Untiefen und vorbei an unzähligen Klippen. Immer wieder beobachtete ich Frauen, Männer und Kinder, die mit Netzen und Reusen Fische fingen. Im mittleren Abschnitt wurde in runden Metallpfannen Gold gewaschen. Auch entdeckte ich auf Bambus montierte Kleingeneratoren, die in Fluss-Schnellen Strom produzierten.
In der Nacht ging ein heftiges Gewitter nieder und verwandelte die Umgebung von Muang Ngoi in eine aus Nepal bekannte und von mir so sehr geliebte Nachregenstimmung mit klarer, frischer Luft und aus den Hügeln aufsteigenden Nebelschwaden... Dann folgte ein Tag Busfahrt durch hüglige Landschaft westwärts nach Luoang Namta, wo ich leider kein geeignetes Trecking fand. Die 190 km lange Naturstrasse südwärts Richtung Mekong wird verbreitert und begradigt. Dabei werden fast keine Stützmauern erstellt, sondern der Hang wird bergseits abgetragen, was Böschungen von gegen hundert Meter Höhe entstehen lässt. Die abgetragene Erde wird auf Lastwagen geladen und anderswo für Auffüllungen verwendet. Zwar gab es Lastwagen, welche die Strasse mit Wasser benetzten, doch war es unvermeidbar, dass unser Bus immer wieder von einer dichten Staubwolke umhüllt dahin fuhr. Ist diese Strasse erst einmal fertig ausgebaut und eine Brücke über den Mekong erstellt, ergibt sich die erste direkte Landverbindung zwischen Thailand und China. Die Auswirkung des Mehrverkehrs auf die umgebenden Naturreservate mit dichten Urwäldern ist kaum abzuschätzen.
Gestern betrat ich am Vormittag den kleinen Teeshop Chiang Mai. Die Frau, etwas erstaunt über meinen Besuch, machte zuerst ihre Kleider zurecht. Neben vielen Teetassen und Töpfen konnte ich kaum mehr als ein Dutzend Teesorten ausmachen. Darunter waren drei aus Thailand, eine aus Vietnam und eine aus Darjeeling. Als die Frau merkte, dass ich Teeliebhaber bin, legte sie ihre anfängliche Zurückhaltung ab, wurde gesprächig und kochte und servierte mir mit Hingabe und Geschick Muster aus ihrem Angebot. Seit einigen Jahren ist die Frau (48) mit einem Franzosen (72) befreundet. Er besucht sie mehrmals pro Jahr und sie selber war auch schon in Frankreich und sogar in der Schweiz. Als ich aus dem gekühlten Laden wieder auf die heisse Strasse trat, merkte ich, dass ich mehr als eine Stunde dort verbracht hatte...
Herzliche Grüsse an euch alle. Wie freue ich mich, euch bald wieder zu sehen!
Bis dann, Fritz
PS:
Unterdessen bin ich seit einigen Tagen in der Schweiz zurück. Gestern traf ich meinen Freund Thedy, welcher mich nach meinem wichtigsten Erlebnis auf der Reise befragte. Es ist eine Begebenheit in einem der vielen Wats (buddhistische Klosteranlagen) in Vientiane: Ich betrachte einen alten, mit bunten Bändern gezierten Baum, als mir der Gedanke durch den Kopf geht, dass die Buddhisten mit ihrem religiösen Symbol Lebensbaum es wohl leichter haben, mit dem Leben und der Natur umzugehen, als wir Christen mit dem Kreuz als Zeichen von Aufopferung und Tod...