18. April 2011

Nr. 10 Sie kamen um zwölf

Am Morgen kurz vor acht Uhr fährt mich ein Taxi auf den Bahnhof von Mawlamyine. Nach längerem Suchen finde ich im wartenden Zug meinen reservierten Platz. Er ist in einem Abteil in der Wagenmitte, wo sich bereits eine Familie eingerichtet hat. Die Mutter, eine hagere, knochige Frau, begrüsst mich lachend und bläst eine lange Rauchwolke aus. Der Vater mit leichtem Bauchansatz und einem Bockbart zeigt sich wenig erfreut über mein Erscheinen. Erst als ich später seinen Jüngsten (ca. 2 jährig), der von seinem mittleren und dem grossen Bruder stets gehänselt wird, zu mir auf den Schoss nehme, erhellt sich sein Gesicht. Ich unterhalte den Kleinen mit Handspielen und gebe ihm Biskuits aus meiner Tasche. Zum mittleren Knaben (ca. 5 jährig) ergibt sich kein Kontakt. Der Älteste sitzt meistens schweigend neben der Mutter auf der Holzbank oder schaut kniend aus dem Fenster.

Mir schräg gegenüber sitzt eine junge, überdicke Frau mit aufgelaufenen Fingern und Beinen. Ihr liebliches Gesicht jedoch ist eine Augenweide. Öffnet sie wiederum ihre sinnlichen Lippen, erscheinen die von Betelnuss rot gefärbten Zähne. Betelnuss kauen auch ihr gesprächiger Mann, sein Vater, seine Mutter und zwei weitere Sippenmitglieder. Den blutroten Saft spucken sie von Zeit zu Zeit aus dem Fenster, oder sie lassen ihn in eine leere Wasserflasche rieseln. Dann fliegt diese aus dem Fenster, wie jeder andere Abfall auch.

Der Zug fährt langsam. Wie überqueren den Thalwin Fluss auf einem viele Kilometer langen Viadukt. Dann rollt der Zug über eine weite Ebene. Ich sehe brache Reisfelder, auf denen Kühe oder Büffel weiden. Gruppen von Palmen. Dörfer mit Holzhäusern, auf Stelzen gebaut und mit Blättern gedeckt. Bauern dreschen auf Lehmböden die letzten Garben. Sie reinigen die Reiskörner im sachten Wind, um sie dann bis zum Abtransport in Spitzhaufen zu lagern. Längst hat die Sonne die letzten Wolken verbrannt und scheint nun in voller Härte auf das weite Land und das eiserne Wagendach.

Der vierte Stopp in Thaton bringt eine Überraschung. Es ist zwölf Uhr mittags. Wie der Familienvater steige ich aus dem Wagen, um einige Schritte auf dem Bahnsteig zu machen. Ich sehe vor dem Stationsgebäude eine Gruppe Verwundeter mit weissen Bandagen. Reflexartig ziehe ich die Kamera aus der Hosentasche und drückte ab. Ein Uniformierter fuchtelt mit den Händen und schreit: no photo, no photo. Erschrocken gehorche ich und gehe zurück auf meinen Sitzplatz.

Im Wagen herrscht nun grosse Unruhe. Die Fahrgäste aus der vorderen Wagenhälfte verlassen schnell ihre nicht reservierten Sitze. Helfer tragen die Verwundeten in die frei gewordenen Abteile. Männer in Zivil, die ein Bein auf Kniehöhe amputiert haben, werden auf die harten Bänke gesetzt oder gelegt. Ein Uniformierter mit vier Balken auf der Schulter trägt seinen verbunden rechten Arm in einer Schlinge. Ein anderer mit einem Lippenpflaster gesellt sich neben ihn auf den Fensterplatz. Im Durcheinander gelingen mir unbemerkt einige Aufnahmen. Noch bevor der am schwersten Verletzte auf den Boden im Durchgang gelagert ist, rollt der Zug wieder an. Ein Sanitätssoldat erscheint und verabreicht ihm am entblössten Oberschenkel eine Spritze. Morphium, denke ich, damit er die Zugfahrt besser übersteht.


Ich wundere mich über das geringe Interesse der Fahrgäste an den Verwundeten. Der Vater auf der andern Seite des Ganges gestiert mit den Armen eine Kriegshandlung. Ich erwidere, indem ich ein Gewehrgefecht imitiere, worauf er zustimmend seinen Kopf bewegt. Die übrigen sitzen scheinbar unberührt auf ihren Plätzen. Sie essen, trinken, kauen, reden, säugen ihre Babies oder nicken bereits wieder ein. Gehört das Geschehen zu ihrem Alltag oder demonstrieren sie passiv gegen die Militärregierung?

Von meinem Sitz mit der Nummer 37 direkt hinter den Kriegsverwundeten kann ich sie gut beobachten. Müde und scheinbar an Strapazen und Warten gewöhnt schweigen sie. Sie sind wohl froh, endlich unterwegs zu sein zur Behandlung in einem Spital. "Very good hospital", antwortet der Vater auf meine Frage nach dem wohin der Soldaten, um sogleich in ernster Stimme beizufügen "Very danger my country, very, very danger!"

Was für Menschen mögen das sein, die auf den Bänken vor mir schmerzhaft leiden? Sind es Soldaten der burmesischen Armee? Unbeteiligte Bauern im Hochland? Oder Freiheitskämpfer der Karren aus der Grenzregion zu Thailand? Wurden sie in einem Gefecht verwundet oder durch Minen? Wie lange mussten sie leiden und bluten, bis Hilfe kam und ihnen die verstümmelten Beinteile entfernt wurden? Vor vierzehn Tagen las ich in der englischen Tageszeitung von Gefechten im Hinterland des Staates Kayin. Im Reiseführer steht, dass die Karren seit der Unabhängigkeit von den Engländern 1947 für einen eigenen Staat kämpfen. Nicht vorstellbar: Sechzig Jahre Krieg, verbunden mit Vertreibung und Flüchtlingselend! Welch Kampfgeist und was für eine Ausdauer hat diese Minderheit, die selbst das über vierzig Jahre herrschende Militärregime nicht in die Knie zwingen konnte!

Ich kam nach Myanmar um Ferien zu machen und mich an den lieblichen Menschen zu erfreuen, die ihre Wangen mit getrockneter Holzrinde fein verzieren. Nun aber werde ich eingeholt von ihrer alltäglichen Realität. Gestern berichtete das englische TV des Landes währende einer Stunde über die Eröffnungssitzung des neu gewählten Parlaments. Doch dazu habe ich bis jetzt von den Menschen der Strasse keine einzige positive Aussage gehört. Wenn jemand einen Satz wagte, war er voll von Enttäuschung und Vorwürfen über Korruption durch Offiziere.

Die Hitze des Nachmittags hat längst auch das Wageninnere besetzt. Die meisten Fahrgäste liegen mit angezogenen Beinen auf Bänken oder ausgestreckt auf dem Holzboden unter den Sitzen. Der Zug rattert, rattert und rattert. Auf ausgeleierten Geleisen kommt er nur langsam voran. Immer wieder gibt es Momente da scheint er zu kippen.

Der Schwerstverletzte holt sich durch Stöhnen die Aufmerksamkeit seines Betreuers. Dieser erhebt sich und tastet an den verwundeten Körpern vorbei, bis er die suchenden Hände seines Patienten ergreifen kann. Sachte hebt er dessen Kopf und Oberkörper, um die unter ihm liegenden Tücher zu ordnen. Aus einer Plastiktüte holt er ein Hünchenbein. Er zerkleinert es und schiebt dem Patienten Stück um Stück in den Mund. Hungrig beisst dieser zu. Dabei erhellt sich sein geschundenes Gesicht für einen Moment. Auch die Wasserflasche hält der Pfleger in der Hand, so dass der Verwundete mit einem Halm seinen Durst löschen kann. Ein schönes, fast zärtliches Bild. Ich ärgere mich, dass ich nicht wage zu fotografieren.

Auf einer Haltestelle mitten am Nachmittag kaufe ich draussen einen Bananenwedel. Ich esse drei Früchte und reiche ihn dann dem uniformierten Betreuer, damit er die restlichen Früchte an die Verwundeten verteile. Die am meisten Verletzten lehnen ab. Sie deuten an, Bananen seien nicht gut für ihre Wunden. Mit Begeisterung jedoch nehmen sie Biskuits, die ich aus der Tasche reiche. Nun ist das Eis gebrochen. Einige danken lachend. Der Betreuer im übernächsten Abteil fotografiert mich mit seinem Natel. "Knipse auch" sagt eine innere Stimme. Eine andere warnt "Vorsicht, vielleicht sitzt noch ein Spitzel im Wagen". Ich will auf keinen Fall riskieren, dass ich verraten und dann bei der Ausreise gefilzt werde. Ich weiss, die Reisen der Ausländer werden anhand der Hoteleinträge genau verfolgt. Und gestern wurde beim Kauf der Fahrkarte meine Passnummer notiert.

Das Rattern und die heisse Nachmittagssonne haben kein Ende. Das trockene Land scheint unendlich und trostlos. Bei genauem Hinsehen sehe ich auch einige grüne Felder, kahle oder belaubte Bäume, einen Kanal, auch Büffel, die nach Futter suchen. Vater und Mutter mir gegenüber kommen sich näher. Die heisse Stunde, in der alle anderen schlafen, benützen sie um sich in die Arme zu nehmen, zu kuscheln, zu flirten. Zwischendurch löst sich die Frau vom Geliebten um hastig eine Zigarette zu rauchen. Eine junge Mutter, die seit Stunden neben mir auf dem Fensterplatz sitzt, stillt ihr Kind. Ich sehe, wie müde sie ist, und ich nehme ihr den Säugling ab. Nun gönnt sie mir zum ersten Mal einen Blick. Und schläft sofort ein. Gut genährt und ohne Scheu hüpft der Einjährige vergnügt auf meinem Schoss.

Auch die Verwundeten sitzen halb schlafend auf ihren Bänken. Einer drückt stets mit beiden Armen seine beinlosen Oberschenkel an die Brust. Zwei andere sind so gelagert, dass ihre weiss verbundenen Beinstummel über dem Schwerverletzen im Wagengang baumeln. Später erscheint der Sanitäter und macht eine Spritze.

Als fades Licht den baldigen Sonnenuntergang ankündet, gibt es Streit unter den drei Buben. Die beiden Älteren haben die Crevettenbrote, die der Vater von einer Händlerin gekauft hat, längst verzehrt. Der Jüngste sitzt in der Ecke und kaut ruhig weiter. Das passt dem Ältesten nicht, und er reisst dem Kleinen den Rest aus der Hand. Dieser beginnt zu weinen. Aufgebracht verprügelt die Mutter den Dieb mit ihrer knochigen Hand. Auch der Mittlere bekommt die harte Hand der Mutter zu spüren. Irgendwie hat er sich eingemischt. Erst als der Kleinste seinen Rest zurück erhält, gibt er Ruhe. Draussen am fernen Horizont versinkt derweil der Sonnenball feurigrot hinter Palmen. Ein Ochsenkarren, zwischen brachen Reisfeldern unterwegs, wirbelt staubige Erde auf. Ein beliebtes Fotomotiv, denke ich. Da sagt der Vater mit bedrückter Miene, wir würden erst nach neun Uhr mit drei Stunden Verspätung in Yangun eintreffen.

Vergebens schaue ich immer wieder aus dem Fenster nach den Lichtern von Yangun. Doch ich sehe nur beleuchtete Hähnchenmästereien. Die Kerze, die der Schaffner in der Wagenmitte auf eine hölzerne Banklehne stellt, wird bald vom Zugwind gelöscht. Es ist stockdunkel. Die Fahrgäste schweigen. Nur die ratternden Räder stören. Auf dem Boden schlafen die beiden Jüngern beidseits der Mutter. Ihr Körper stösst bei jedem Ruck gegen meine Beine.

Grossstadtlichter erhellen das Wageninnere. Männer packen ihre Sachen und drängen zum Ausgang, wo sie stehend auf die Ankunft im Hauptbahnhof warten. Ein harter Ruck, der Zug steht. Gedränge. Stimmen. Innert Minuten ist der Wagen leer. Bis auf die Verwundeten. Diese räckeln sich müde. Erst als Männer erscheinen und sie zum Heraustragen richten, steige ich aus. Auch aus dem Wagen hinter uns werden Verletzte auf die Rundback auf dem Bahnsteig getragen. Ich zähle vierzehn, die dort warten. Es ist bald zehn Uhr. Drei Frauen erscheinen und gehen auf den Schwerstverletzten zu, der jetzt auf dem Zementboden liegt. Die Jüngste betrachtet einig Sekunden das verbundene und mit Blut verschmierte Gesicht. Erschrocken hebt sie die Hände vor den Kopf. Ihr erbärmliches Weinen erfüllt die Nacht.