Nr. 27 Wo Bären Autos ausrauben
San Francisco, 30. Juni 2007
Liebe Mitreisende
Vorgestern erreiche ich mit der Eisenbahn San Francisco. Zwischen seinen Wolkenkratzern mache ich mich sogleich auf die Suche nach einer Unterkunft. Statt durch einen Tannenwald, wie am Tag zuvor, durchwandere ich spiegelnden Glaswände. Beide himmelhoch hoch, sehr vielfältig und kaum fassbar. An beiden Orten ich winzig klein! Gestern über weichen Waldweg und heute auf hartem Asphalt. Im Wald fühlte ich mich geborgen, frei, glücklich. Hier spüre ich Enge, Unsicherheit, ja Angst. Die Wolkenkratzer stehen so nahe beieinander, und ich stelle mir vor, wie sich deren Spitzen während eines Erdbebens — das ja hier jederzeit eintreffen kann — berühren und aneinander schlagen. Und wie die Türme dann mit grossem Krach einstürzen. Doch bald verlasse ich das Stadtzentrum und komme in Gassen, wo die Häuser nur noch drei oder vier Stockwerke hoch sind.
So ist der Tagtraum bereits vergessen, als ich im Pacific Tradewinds ein Bett erhalte. Das saubere Lokal ist eng und vollgepackt mit zweistöckigen Betten. Es kommt mir vor wie ein Stall mit Hühnern in Käfighaltung. Sitze ich im fensterlosen Aufenthaltsraum beim Frühstück, schlängeln sich weibliche und männliche Gestalten — angezogen oder halb nackt — an meinem Tisch vorbei, um ins WC oder die Dusche zu gehen. Die Betten sind meist alle besetzt, denn für Amerikaner und Ausländer ist bereits Ferienzeit.
Seit Las Vegas habe ich in der Sierra Nevada zwei Naturparks besucht. Davon werde ich im Folgenden berichten. Zuunterst im Eintrags hat's eine Karte. Für euch alle — unterwegs oder zuhause — wünsche ich eine "coole" Zeit! Hier in San Francisco ist es auch eher kühl und windig.
Von Herzen liebe Grüsse
euer Fritz
Durch den Netzplan von Antrak (Amerikanische Eisenbahn) wurde ich auf den Nationalpark mit dem Namen Giant Sequoia aufmerksam. Das Land von Las Vegas bis tief nach Kalifornien hinein hat nur wenig Vegetation und gilt als Wüste. Als wir uns nach einer achtstündigen Busfahrt meinem Ziel, Visalia, näherten, sagte mir der Busfahrer, es gebe seit drei Wochen einen öffentlichen Bus in den Sequoia Park. Erleichtert buchte ich bei einem Inder für vier Nächte das billigste Hotel (60 Dollar) in der Stadt. Im Park selber gibt es nur einen Zeltplatz. Am nächsten Morgen war es Samstag und mein Bus fuhr um acht. Weil die Linienbusse der Stadt übers Wochenende erst ab 10 Uhr vormittags verkehren ging ich dreiviertel Stunden zu Fuss. Und ich war an diesem Morgen der einzige Fussgänger.
Zuerst fuhren wir zwanzig Kilometer bis and den Rand des "Central Valley". Riesige Gärten mit Orangen, Pfirsichen, Feigen, Reben, Nüssen, aber auch Luzernenfelder breiten sich links und rechts der Strasse aus. Das unendlich grosse, topfebene Tal ist die Fruchtkammer Amerikas und auch in Europa bekannt als Lieferant von Wein, Trockenfrüchten und Nüssen. Nur wo bewässert werden kann, gedeihen die Kulturen. In der Zeitung habe ich gelesen, dass in diesem Winter im Wasserspeicher, der Sierra Nevada, sehr wenig Schnee gefallen sei. Darum befürchten die Bauern auf den Sommer eine Trockenheit und bohren neue Tiefbrunnen. Bei einer Baumart in den Vorhügeln sind die Blätter bereits vertrocknet. Von Weiten sehen die Bäume zwar aus, als würden sie rot blühen. Doch aus der Nähe, ist der Trockenstress erkennbar, und ich befürchte, dass sie nach dem Einsetzen der Regenzeit in einigen Wochen nicht mehr austreiben werden.
Endlich fuhren wir durch ein leicht bewaldetes Tal und dann auf kurvenreicher Strasse hoch auf über 2000 Meter über Meer, hineinen in einen dichten Nadelwald. Er besteht vor allem aus Weisstannen und Föhren. Ich war überrascht von der Grösse, sind diese Bäume doch fast doppelt so hoch, wie ich sie von der Schweiz her kenne. Und eingestreut im Wald stehen die noch grösseren Sequoia. Ihre roten Stämme sind gut sichtbar und unheimlich dick. Ein wirklich majestätischer Baum! Gleichzeitig kamen mir die Sequoia vor wie aus einer anderen Welt, wie ein Überbleibsel aus der Zeit der Dinosaurier.
Von der Parkleitung wird besonders auf die grössten Sequoia-Bäume hingewiesen. Sie stehen unweit der Strasse, sind abgezäunt und mit Wartezeiten für ein gutes Foto muss man rechnen. Im Park gibt es mehrere Infostellen, ein Museum und, entlang eines idyllischen Baches einen riesigen Zeltplatz. In seiner Nähe machte ich am ersten Tag eine Wanderung zu einem bereits halb ausgetrockneten Wasserfall.
Auf dem Rückweg sah ich einen Bären, der unweit des viel begangenen Weges mitten im Wald spielte. Die Leute auf dem Zeltplatz müssen ihre Lebensmittel in speziellen, bärensicheren Metallboxen versorgen. Im Museum wird ein Video gezeigt, wie ein Bär auf einem Parkplatz ein Autofenster eindrückt und ins Innere steigt, um die dort liegen gelassenen Lebensmittel herauszuholen.
Am zweiten Tag entfernte ich mich alsbald vom grossen Besucherstrom. Allein wanderte ich für Stunden durch den Urwald. Ein Erlebnis besonderer Art, ein Höhepunkt meiner bisherigen Reise! Das Besondere dieses Waldes ist das Nebeneinander der Föhren, Weisstannen und Sequoia in allen Altersstufen. Ihren Lebensbogen beschliessen die Hölzer als abgestorbene oder bereist umgefallene Bäume. Und immer wieder stiess ich im dunklen Forst auf grüne Sumpfwiesen, die Perlen des Parks.
Zwei Tage später besuchte ich den nördlicher gelegenen populären Yosemite Park. Seine einzigartigen Granitfelsen sind mir durch die schwarz/weiss Aufnahmen von Ansel Adams seit langem bekannt. Am ersten Tag wanderte ich ab elf Uhr auf steilen Pfaden vorbei an sprudelnden Wasserfällen und über hohe Klippen. Der Tannen-Föhren-Wald wurde teilweise grossflächig von Feuern zerstört. Bei einem berühmten Aussichtspunkt traf ich ein Paar aus Bayern, das mich müden, dankbaren Wanderer in ihrem Auto zu meiner Unterkunft zurück brachten. Die beiden besuchten in ihren drei Wochen Ferien über ein Dutzend Parks in der Umgebung. Der junge Mann sagte ernüchternd, nun habe er wirklich genug von farbigen Felsen, Sandwüsten und Urwäldern.
Ich selber muss eingestehen, dass diese beiden Parks bei mir die Neugier erst richtig geweckt haben. Am zweiten Tag wanderte ich im Tal und badete vor dem Picknicken im kühlen Bach. Später unterhielt ich mich mit Freiwilligen, die Brombeerstauden ausreissen, weil sie als Fremdpflanzen die lokale Flora bedrohen.
Ich denke, die Faszination von Yosemite liegt in seiner geologischen Gestaltung. Im ebenen Tal umfasst von Granitwänden fühlt man sich geborgen wie in einem Haus. Seine "Inneneinrichtung" (die Wälder, Bäume, Wiesen, Blumen und Bäche) wirkt natürlich und paradiesisch. Und über allem spannt sich tagsüber ein blauer, mit Kondenswolken von Flugzeugen verschmierter Himmel.
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