10. Dezember 2007

Nr. 39 Meine Weihnachtsgeschichte

Cusco, 10. Dezember 2007
Liebe Mitreisende

In der Hauptstadt Lima blieb ich nur zwei Tage. Weiter ging die Reise über Pisco (mit Besuch der Vogel- und Seelöweninsel Ballestas) nach Nasca. Statt über die Zeichnungen und Linien in der nahen Wüste zu fliegen, verbrachte ich einen Vormittag ganz allein bei ihnen auf dem Boden. Dann begann eine tolle aber mühsam zu organisierende Reise über die Anden hierher nach Cusco. Die Busse fahren nur Nachts, und so reiste ich per Sammeltaxi, und — über 300 km, also die Hälfte der Strecke — als Beifahrer in einem Lastwagen. Auf den Hochebenen über 3500 Meter grasten Alpaca Herden. Hier in den südlichen Anden ist es immer noch trocken. Die Regenzeit hätte schon vor Wochen beginnen sollen.

Lange überlegte ich mir, mit was ich euch zu Weihnachten beschenken könnte. Ein Jahresbrief ist überflüssig, da ich euch ja regelmässig von mir berichtet habe. Und dann wusste ich es plötzlich. Vordergründig hat die Geschichte wenig mit Weihnachten zu tun. Doch sie entspricht der Realität im Land Peru. Dem Fremden werden zwar viele einzigartige Naturschönheiten geboten, doch das Leben der meisten Menschen besteht aus einem äusserst harten Kampf ums Überleben. Und gleichwohl: Die Menschen sind sauber angezogen, lachen viel und werden Weihnachten in vollen Kirchen feiern.

Euch allen wünsche ich für die kommenden Wochen Oasen der Ruhe und Besinnung inmitten des Rummels.
Von Herzen liebe Grüsse
Fritz


Pisco — 105 Tage danach
Um halb fünf habe ich mich mit Augusto (33) verabredet, damit er mir seine zerstörte Stadt zeigt. In der Motorriksha sind auch seine zwei Kinder. "Dürfen die auch mitkommen?" fragt Augusto mit traurigem Gesicht. Die Familie hat im Erdbeben die Mutter verloren.

Die Fahrt ist stockend. Schutthaufen eingestürzter Häuser, Löcher im Belag und stinkende Pfützen müssen umfahren werden. Plastiktüten und Flaschen treiben im Wind. Zum ersten Mal hält die Riksha am Ende einer Nebenstrasse. Vor uns ein eingeknicktes, vierstöckiges Haus mit sechzehn Wohnungen. Auf der Seite der Garagentore berührt der erste Stock beinahe den Boden. Die Zimmer sind leer, die Fester zersplittert. Durch ein Guckloch muss ich die zerdrückten Autos fotografieren. Es ist Sonntag und noch weitere Besucher stehen diskutierend vor der Ruine.

Was wir unterwegs zu sehen bekommen, erschreckt und bedrückt mich. So viel Zerstörung, so viele Provisorien! Und seit dem Beben sind schon über drei Monate vergangen. Blumen sehen ich keine. Wo der Häuserschutt weggeräumt ist, bleibt nichts als Staub und Leere. Mancherorts abgesperrt mit einer farbigen Plane. Dahinter stehen Zelte und Notunterkünfte aus Lumpen, Blech und Schilfrohr. Menschen gehen auf den Strassen, Fahrzeuge wirbeln Staub auf. Von Pisco, laut Reiseführer eine aufstrebende Stadt, ist nach dem Beben mit Stärke 8,5 weniger als ein Drittel übrig geblieben. Unbenutzbar sind auch Banken, Hotels, Supermärkte und Wohnblocks, alle aus Beton gebaut.

Gestern Nachmittag, als ich mit dem Bus aus Lima ankam und in einem der wenigen noch offen Hotels ein Zimmer bezogen hatte, ging ich auf den Hauptplatz. Beissender Gestank und braune Staubwolken schlugen mir ins Gesicht. Frontlader und Lastwagen schafften zerbrochene Betonteile und Erdziegel eines Eckhauses fort. Jedes Mal, wenn der Lader Schutt auf die Ladefläche kippte, trieb der Wind eine Wolke über den Platz. Zwei fahrende Kioske schützten ihre Waren mit Tüchern, der Bäcker verkaufte seine Brötchen schon immer aus dem Glasschrank.

Auf den staubigen Sitzbänken des Platzes sassen alte Männer und schmusende Pärchen. Mütter gingen einher mit volle Taschen und einem Kind auf dem Rücken. Junge Menschen telefonierten per Handy oder suchten sich ein neues am provisorischen Stand der diversen Anbieter. Nur gerade eine Bank und eine Apotheke sind um den Hauptplatz wieder geöffnet. Ich hörte Gesang aus dem grünen Zelt an der Stelle, wo einst die Kirche stand. Als ich näher kam, verstummte er, und ich sah, wie der Pfarren sechs Kindlein taufte. Eltern und Paten freuten sich. Fotografen knipsten Bilder.

Mit der Riksha fahren wir durch eine Strasse mit noch mehr Dreck und Schutt. Kaum ein Haus ist zu sehen. Ruinen. Farbige Zelte und aufgeschichtete Möbel geben im Abendlicht gute Fotos. Hier leben die Ärmsten der Stadt, erläutert mir Augusto. Sie sind Hilfsarbeiter auf Fischerbooten oder in den Weinkellereien. Sie, die auch kein Land in der nahen fruchtbaren Ebene besitzen, wurden am meisten getroffen. Ich gehe auf eine alte Frau zu. Wir geben uns die Hand. Sie erzählt: "Wir sind eine grosse Familie. Ich hatte zehn Kinder. Alle leben hier und haben Haus und Habe verloren. Das Beben überraschte uns um sieben Uhr abends. Stunden später kam die Flutwelle und hat alles mitgenommen." Ihr Sohn, der daneben steht, führt seine Hand zum Hals. So hoch war die Welle.

Wir beobachten, wie Leute auf kleinen Betonflächen Gestelle aus Aluminium aufstellen und sie mit Sperrholzplatten verkleiden. "Das sind unsere neuen Häuser." sagt der Sohn, "Hilfe aus den USA." Ich darf ihn aber nicht fotografieren. Seine Mutter jedoch freut sich riesig über ihr Foto auf dem Display meiner Kamera. Zum Abschied umarmen wir uns. Wir haben fast denselben Jahrgang. Einigen Schritte weiter hat eine Familie ihre Heiligenbilder im Freien aufgestellt. Wenigstens in einer Hinsicht haben die Betroffen hier Glück: Das Klima ist angenehm und es regnet sozusagen nie.


Wir halten vor einem eisernen Tor eines Lagers, welches von einer kirchlichen Organisation geführt wird. Eine Betreuerin geleitet uns vorbei an dicht aneinander gereihten Zelten zum Speisesaal. Hier essen die siebzig Familien, die hier wohnen, in Schichten. In eine andern Raum verzieren Kinder mit Muscheln Dosen und kreieren Bilder, die sie bald in Lima ausstellen werden. Heitere Stimmung herrscht in der Küche, wo Frauen im Fett Süssigkeiten backen. Sie reichen mir einen Ring zum Probieren und geben mir weitere in einem Plastiksack mit.

Im sauber gekehrten Hof stehen zwei Weihnachtsbäume. Trockene Äste, verziert mit Girlanden. Ein Mädchen eilt herbei und will sich fotografieren lassen. Die Zwölfjährige folgt mir nun auf Schritt und Tritt. Jedes Bild, das ich schiesse, will sie sehen und kommentieren. Dabei lacht sie und ruft ihre Freundinnen. Diese aber halten sich lieber im Hintergrund und tuscheln miteinander.

Zum Sonnenuntergang gehe ich auf den langen Pier, der weit ins Meer hinaus reicht. Nach all dem Gesehenen brauche ich frische Luft. Im schwindenden Licht über den rauschenden Fluten beschliesse ich, Euch zu Weihnachten eine Geschichte über diesen Nachmittag zu schreiben. Ich habe das Bedürfnis, das Erlebte zu teilen.

Die Fotos vom 1. Dezember aus der zerstörten Stadt Pisco lasse ich ohne Legenden sprechen.













1 Kommentare:

At 26. Dezember 2007 12:07, Anonymous SiSu said...

Lieber Fritz,
es ist unglaublich, was du auf deiner Reise alles erlebst. Vielen Dank, dass du uns an deinen Geschichten Anteil nehmen lässt. Ob du dich überhaupt in der Schweiz wider zurecht finden wirst? Wo hast du die Weihnachtstage verbracht?
Wir haben hier bei uns schon am WE 22./23 Dez. mit unseren Kindern und Grosskindern gefeiert, da Bea am 25. bis 26. arbeiten muss. Daniel leitet ja im Wasen ein Mutter-Kind Haus wo sie mit diesen Frauen am 24. feierten. Es geht uns allen gut, Bea und Xaver sind glücklich mit ihrer Janine, und auch die 3 Kinder von Dani machen uns viel Freude. Über Neujahr werden wir zu meiner Schwester nach Bülach gehen.
Von Herzen wünschen wir dir fürs neue Jahr alles Gute, viele schöne Erlebnisse und Begegnungen mit Gott und den Menschen dort, wo du bist.
Herzliche Grüsse aus Bethlehem von Simon und Susi mit Familie