2. März 2008

Nr. 45 Wald-Geister

Quellon, 2. März 2008
Liebe Mitreisende

Quellon ist ein kleines Hafenstädtchen im Süden der Insel Chiloe. Morgen früh geht meine Fähre nach Chaiten, von wo ich nach Patagonien weiterreisen werde.

In den vergangenen zehn Tagen besuchte ich drei Naturparks. Den ersten peilte ich erfolglos an. Er liegt weit abgelegen, und die umgerechnet 200 Franken für einen Tagesausflug mit Privatauto waren mir dann doch zu teuer. Der Bericht zum Besuch des Parks Los Alerces des Andes folgt weiter unten. Hier in Südchile ist es äusserst schwierig, verlässliche Informationen zu den Parks zu erhalten. Wenn überhaupt, dann erst beim Parkeingang. So konnte ich die Wanderung zu den Alerces erst im zweiten Anlauf machen.

Die kleinen Inseln Punhuil im Nordwesten von Chiloe, auf denen je vier Kolonien zweier Pinguinarten leben, waren für mich enttäuschend. Die Inseln liegen nahe bei einem Strand, der von Fischern benutzt wird, die ihre Boote im ruhigen Wasser zwischen den Inseln ankern. Der Pazifik ist auch dort sehr Fischreich, doch die Fischer sind — wie überall — nicht gerade ordnungsliebend.

Vom Nationalpark Chiloe konnte ich nur einen kleinen Teil sehen. Er ist noch kaum erschlossen und kann darum nur auf einer Spezialtour oder mit Zelt erkundet werden. Eindrücklich für mich war ein langer Küstenabschnitt, wo eine grosse Düne seit dreissig Jahren am Vordringen ins Landesinnere gehindert wird, indem Dänisches Küstengras angepflanzt wird. Gestern Vormittag besuchte ich noch einen kleinen einzigartigen Wald. Über die Jahrtausende entstand auf Kiesgrund und der darüber liegenden wasserundurchlässigen Schicht eine Art Mini-Urwald. Die Bäume werden zwar sehr alt und wachsen verknorzt, aber nur bis zwölf Meter hoch. Sie lassen viel Licht durch und erlauben eine vielfältige Vegetation. Unterschiedliche Moose, Flechten und Kleinpflanzen besiedeln das bis zu zwei Meter hohe Stammwirrwarr auf nassem Grund.

Kurz zur Hafenstadt Puerto Montt, wo ich mehrere Tage verbrachte: Puerto Montt wurde von deutschen Siedlern erst Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gegründet. Heute zählt es bereits gegen 200'000 Einwohner und erlebt zurzeit einen enormen Wachstumsschub. Diesen hat es vor allem der Lachszucht für den Export zu verdanken, die ab Mitte der neunziger Jahre langsam aufkam. Die Stadt ist ein extremes Beispiel einer neoliberalen Gesellschaft. Ästhetik, Sauberkeit und Sorgfalt sind Fremdwörter, die Menschen auf den Strassen unfreundlich und konsumhungrig. Mir erschien sie als die hässlichste Stadt, die ich bisher besuchte.

Während es hier nach einem Regentag auf den Herbst zugeht und immer kühler wird, zieht bei euch in Europa der Frühling ein. Ich freue mich davon zu hören und grüsse wie immer
euer Fritz

Message to Carolina: Thanks for your comment on my blog. please send me your mail address to fritz.berger@transhumana.ch for future contacts. fb



Wald-Geister
Am See Sargozo ging's auf und ab. Stets durch Wald, Urwald. Auch später im flachen Tal. Dort sind die Bäume noch dicker und höher, mit braungrauer Rinde vermoost. Es roch nach verfaultem Holz. Durch Baumlücken erblickte ich einen Felsen und bewaldete Hügel. Die ersten Sonnenstrahlen vergoldeten die Baumwipfel um mich herum. Die Moose am Wegrand und der Bambus, der im Unterholz dominiert, blieben im Schatten. Hinter Büschen das vertraute Rauschen eines Bachs. Für einige Zeit begleitete mich eine Meise mit roten Brustfedern. Dann sah ich einen schwarzen Vogel wie eine Amsel und hörte das Rufen der Spechte.

Dann steht sie vor mir, die Alerce*, die ich gesucht! Unwirklich und so mächtig! Der vier Meter dicke Stamm verliert sich schnurgerade dreissig, vierzig Meter im Blätterdach über mir. Vorsichtig trete ich zum Stamm, versuche ihn zu umarmen. Ich bin zu klein, der Stamm zu mächtig. Laut Angaben soll dieser Baum 4200 Jahre alt sein. Sechzig Mal so alt wie ich. Mir erscheint er viel, viel älter. Er könnte 10'000-jährig sein. Sicher ist: Er keimte in einem anderen Zeitalter. Damals lebten noch wenige Menschen. Der grösste Teil ihres heutigen Lebensraums war so unberührt und so dicht bewaldet wie das Tal hier.

Mein Kopf läuft heiss. Damals, als diese Alerce heranwuchs, gab es noch keine "Grossen Religionen". Sicher, auch die ersten Menschen spürten höhere Kräfte und verehrten sie. Im fernen China und in Indien gab es Weise, die mit Hilfe der Schrift ihre Erkenntnisse verbreiteten. Buddha wurde unter einem Baum meditierend erleuchtet. Was? Unter einem Baum! Ein Baum als Symbol unseres Seins. Ist das der Grund dafür, dass buddhistische Mönche und Laien das Leben aller Wesen, inklusive Pflanzen, Insekten, Tiere, lieben und achten? Und wie ist es bei den Christen? Das Kreuzsymbol ist verbunden mit Leiden, Not, Tod, Sünde, auch Erlösung. Warum wohl wurden die christlichen Nationen Europas so übermütig und machten sich daran, die ganze Erde zu beherrschen? Warum segnete die Kirche bis vor kurzem Kriege, warum macht sie mit beim Kapitalismus und damit der Umweltzerstörung? Dabei gibt es in den Wäldern am Äquator bis heute Völker, die von und mit dem Wald leben. Könnten sie nicht Vorbild sein für eine nachhaltige Lebensweise?

Hunger beruhigt mein Gemüt. Ich esse ein Brötchen mit Käse und Schokolade. Meinen Rücken gegen den Stamm gelehnt, erkundet mein Blick die Umgebung. Zwischen Stämmen von Laubbäumen stehen weitere Alerces. Mächtig und grosse Ruhe ausstrahlend. Keiner der Stämme wurde von einer Axt verletzt oder von einem Feuer verkohlt. Hier wurde kein Baum von Menschenhand gefällt. Keine Spuren von Kuhdreck. Ein leichter Windhauch bewegt Blätter und Nadeln. Für Augenblicke stören Vogelstimmen die ewige Ruhe.

Ich gehe zur Lagua Fria in der Nähe. Grüne und trockene Äste breiten sich weit über klares Wasser. Hinter eleganten Binsen schwimmen fünf Enten. Um auszuruhen lege ich den Kopf auf einen trockenen Ast. Statt Erschöpfung von der fünfstündigen Wanderung durchströmt mich eine grosse Energie. Wie erfrischend und wohltuend! Lebenskraft des ungestörten Waldes? Ein Geschenk der Bäume an uns Menschen! Kann ich es nur spüren, weil ich alleine hier bin?

* Die Alerce, früher auch in den Ebenen anzutreffen, wächst heute nur noch in geschützten Parks in den südlichen Anden. Sie trägt kurze, schuppenartige Nadeln und wächst extrem langsam. Wegen ihres harten, unverderblichen Holzes war sie in den letzten Jahrhunderten ein gesuchtes Bauholz. Während die Araucarie gelegentlich in städtischen Parks steht, fehlt die Alerce dort.

0 Kommentare: