31. August 2008

Nr. 55 Rückblick auf die Reise

Santa Fee, Venezuela, 22. August 2008
Liebe Mitreisende

Rückblick auf die Amerika-Reise
vom 14. Oktober 2006 bis zum 25. August 2008


Auf meiner allerersten Auslandreise stand ich staunend vor der orientalischen Silhouette Istanbuls. Doch aufgeschreckt vom schwarzen stinkenden Smog, den die vielen Autos in die belebten Strassen entliessen, stellte ich mir die Frage: Ist die giftige Verschmutzung der Luft durch die Automotoren längerfristig nicht gefährlich für die Menschen? Heute, nur gerade fünfzig Jahre später, ist das Leben auf der Erde wegen CO2 in Gefahr. So war Umweltverschmutzung eines der Themen, welche mich auf meiner langen Reise begleiteten. Ich beobachtete an Stränden umgefallene Palmen, von Hochwasser oder Trockenheit gestresste Landschaften, durch Plastik verschandelte Landstriche. Unterwegs las ich in lokalen Zeitungen immer wieder von den Gefahren der Klimaveränderung. Doch im Verhalten der Menschen (die Touristen eingeschlossen) spürte ich wenig Bewusstsein und Bereitschaft für energiesparendes Verhalten. Gesüsste Getränke und frittierte Speisen, verbunden mit wenig Bewegung, führen zu Fettleibigkeit. Der Einsatz chemischer Hilfsmittel in Ackerbau und Tierzucht wird weiterhin nicht hinterfragt.

Mit Abneigung verfolgte ich den verbreiteten Konsum schrecklicher "Brutalofilme", vor allem unterwegs in den Bussen in vielen Ländern. Dagegen staunte ich immer wieder über die Gelassenheit der Menschen im Umgang miteinander. Stress und Hektik bin ich nicht begegnet. Und oft freute ich mich zu beobachten, wie Mütter und Väter ausdauernd mit ihren Kindern spielen. Gefehlt hat mir in den Geschäften, Lokalen und Hotels in den spanisch sprechenden Ländern ein minimales Mass an Freundlichkeit. Umso angenehmer waren die Offenheit und Hilfsbereitschaft der Menschen in den USA und Brasilien.

Bereits vor der Abreise hatte ich Vorstellungen über die Art und Weise, wie ich reisen wollte: Erstens wollte ich möglichst umweltschonend unterwegs sein. Das heisst, mit öffentlichen Verkehrsmitteln über Land reisen, und in einfachen Hotels übernachten. Fünf Mal (inkl. Hin- und Rückreise) nahm ich das Flugzeug. Leichter zu verwirklich war der zweite Vorsatz: offen und langsam reisen. So hatte ich nur grobe Vorstellungen davon, was ich jeweils in einem Land sehen wollte. Die Orte, die ich dann besuchte, ergaben sich unterwegs aus Gesprächen oder Informationen aus dem Reiseführer. Dadurch konnte ich das Reisetempo meinen Kräften anpassen, ohne einem ernsthaften Reisekoller zu verfallen. Ich besuchte auch nicht alle populären Ziele, sondern war bemüht, nur das zu machen, wozu ich im Moment ein Bedürfnis empfand.

In den Orten, in denen ich Halt machte, beobachtete ich mit meinen Sinnen und der Kamera das Verhalten der Menschen. Auf stundenlangen Streifzügen entstanden einzigartige Fotos über das Befinden der Bewohner in allen 23 Ländern der beiden amerikanischen Kontinente. Nun suche ich eine Möglichkeit, diese Bilddokumente in einer Ausstellung oder Publikation zu zeigen.

Wann immer möglich besuchte ich Wälder und grosse Bäume. Diese Aufenthalte lieferten Stoff für mein aktuelles Buchprojekt. Weitere Motive waren Parks, Strassenwischer, Abfallentfernung und Friedhöfe. Es hat sich sehr bewährt, die Fotos von den Speicherkarten in Internetcafes auf DVD zu laden und mit der Post in die Schweiz zu schicken.

Das monatelange Unterwegssein mit Sohn Andres war einzigartig. Die Wochen mit Sybille und diejenigen mit Marlise bleiben als wichtige Erfahrung. Die Besuche bei Casparis in Venezuela, bei Hans und Heiz in Kanada, bei Johannes in Chile und Christine und Hans in Paraguay möchte ich nicht missen. Mehrere Male unternahm ich mit anderen Reisenden ein- bis mehrtägige Touren. Die Gespräche in den Herbergen brachten wichtige Informationen beim Planen der Weiterreise. Selten ging ich abends mit ReisekollegInnen aus. Mit einigen, die ich unterwegs kennen lernte, stehe ich weiterhin in Kontakt per E-Mail. In Cusco wurde ich einmal zum Essen in ein Privathaus eingeladen.

Was ich mir nicht gewünscht hatte, traf ein. Ich war viel allein. Die Abende allein zu verbringen war immer wieder eine grosse Herausforderung. Ich gewöhnte mich daran, allein zu planen, nach meinen Sachen zu sehen, mich an tollen Dingen zu freuen, Erfahrungen zu verarbeiten, Gedanken zu spinnen. Spontane Gespräche im Bus oder auf der Strasse brachten Abwechslung, Freude das lachende Gesicht eines Kindes.

Mit einigen Bekannten zuhause ergab sich ein reger Austausch per E-Mail, was meinem Wohlbefinden sehr zugute kam. Zu merken, dass Menschen zuhause an mich denken, war wichtig für mich. Telefonische Kontakte pflegte ich nicht, was ich nachträglich bereue. Auf meiner fast 23 Monate dauernden Reise habe ich viel erlebt, viel gesehen und viel gedacht. Ich blieb gesund und verschont von Raub, Gewalt und Unfall. Das macht mich glücklich und dankbar.

Grosse Momente des Reisens erlebte ich, wenn der Bus nach dem Verlassen einer Stadt in die weite Landschaft hinaus fuhr, unbekannten Horizonten zu. Oder wenn ich das Atmen und Blühen der Natur – dieses unerschöpfliche Wunder – spürte, wenn ich zu Fuss unterwegs war! Es waren einzelne Menschen, ein Baum oder eine Blume, ein Bach, ein See oder ein Berg, die mir in Erinnerung bleiben werden. Die riesigen Städte oder die extrem weiten Landschaften Amerikas zu erfassen, war nur beschränkt möglich.

Wie eine dunkle Wolke begleitete mich der geschichtliche Hintergrund der besuchten Länder. Die Jahrhunderte nach der Ankunft von Columbus waren gekennzeichnet durch Vertreibung, Todschlag, Krankheit, Verachtung, Verfolgung, Ausbeutung, Sklaverei, Diktaturen und Misswirtschaft. Das Leid wurde durch die einstigen Kolonialmächte verursacht und von der Kirche unterstützt. Enttäuschend ist es auch, zu sehen, wie die Vorherrschaft der Weissen und Ausländer in vielen Formen weiter geht. So durch Landkauf, durch multinationale Gesellschaften und im Tourismus. Die Besitzer und Betreiber der Hotels, Restaurants und Agenturen sind Europäer oder Nordamerikaner. Hoffnungen auf eine bessere Verteilung der Güter bestehen in Argentinien, Brasilien, Bolivien und Paraguay, wo sich sozialistische Regierungen etabliert haben.

Zum Befinden der indigenen Bevölkerung hätte ich gerne mehr erfahren. Nur gerade in Guatemala und Bolivien haben sie politisch ein Gewicht. Ansonsten erscheinen sie als Randfigur und ihr Wohnraum wird zusehends noch enger. Auffallend ist, dass die Kultur der Indianer – lebend oder bereits untergegangen – als touristische Attraktion verkauft wird. Die Herstellung und der Verkauf von feinem und kunstvollem Handwerk sind für einen Teil der Indigenen zu einer neuen Aufgabe geworden. Dort wo Sehenswürdigkeiten in ihren Stammesgebieten liegen, arbeiten sie als Führer oder Träger. Nur wenige schafften es bisher, eine eigene Reiseagentur aufzubauen.

Im letzten Viertel der Reise stellte ich mir immer von neuem eine Frage: Hat die westliche Zivilisation überhaupt eine Zukunft? Das macht mich sehr betroffen und traurig zugleich. Es scheint, dass wir uns auf die Suche nach einem neuen Lebenskonzept begeben müssen. Eines, das sich nicht auf Geld, Macht, Konsum und Mobilität stützt. Eines, das allen Kreaturen dieser Erde ein nachhaltiges Leben einräumt. Wer hat die Visionen dazu?

1 Kommentare:

At 31. August 2008 15:18, Anonymous el loco del barrio said...

daddy,
gelungenes fazit. bravo.